Übersichtsarbeiten - OUP 06/2023
Periprothetische Frakturen des HumerusEine Übersicht – Epidemiologie, Einteilung, Therapiemöglichkeiten und Outcome
Melina Pavlovi?, Vanessa Ketter, Steffen Ruchholtz
Zusammenfassung:
Die Inzidenz periprothetischer Humerusfrakturen (PPHF) nimmt aufgrund des demografischen Wandels und der zunehmenden Implantation von Schulterprothesen stetig zu. Weder über die Einteilung noch über die optimale Versorgungsstrategien dieser Frakturen besteht allerdings ein Konsens.
Während Frakturen im Bereich der Tuberkel und distal des Prothesenschaftes auch konservativ behandelt werden können, sofern der Schaft stabil sitzt, zeigen sich für die übrigen Frakturentitäten hohe Pseudarthroseraten unter nicht-operativer Therapie. Nachdem prä- oder intraoperativ ein gelockerter Prothesenschaft festgestellt wurde, wird weitgehend ein Wechsel des Implantates auf einen Langschaft, der die Fraktur suffizient überbrückt, empfohlen. Bei einer festsitzenden Prothese kann bevorzugt die osteosynthetische Versorgung mit winkelstabilen Plattensystemen erfolgen, da hier einheitlich über die höchste Frakturheilungsrate berichtet wird.
Grundsätzlich handelt es sich bei der Frakturversorgung von PPHF jedoch um einen hochkomplexen Sachverhalt, der prä- und intraoperativ eine sorgfältige Abwägung verlangt und neben der Frakturlokalisation insbesondere die Stabilität der Prothese, aber auch individuelle Aspekte, berücksichtigen sollte.
Schlüsselwörter:
Periprothetische Fraktur, Humerus, Osteosynthese, Revision, Prothesenwechsel
Zitierweise:
Pavlovi? M, Ketter V, Ruchholtz S: Periprothetische Frakturen des Humerus. Eine Übersicht – Epidemiologie, Einteilung, Therapiemöglichkeiten und Outcome
OUP 2023; 10: 280–286
DOI 10.53180/oup.2023.0280-0286
Summary: The incidence of periprosthetic humeral fractures (PPHF) is trending upwards subject to rising total numbers of shoulder arthoplasties and the demographic ageing. Nonetheless, there is no consensus neither about classification nor the optimal treatment algorithm. Nondisplaced fractures of the tubercles or distally to the stem can be treated non-operatively when the arthroplasty is well-fixed. Conservative treatment in general though is associated with a high percentage of non-unions. For stable implants with sufficient bone stock, a fixed angle plate osteosynthesis can be performed, which yields the highest union rates overall. Whenever the stem is loose and/or the bone quality is poor, a revision arthroplasty has to be performed. In general, treatment of PPHF is a very complex situation which requires surgeons to take the fracture, the integrity of the stem and individual circumstances into consideration.
Keywords: Periprosthetic fracture, humerus, ORIF, revision arthroplasty
Citation: Pavlovi? M, Ketter V, Ruchholtz S: Periprosthetic humeral fractures. An overview of epidemiology, classification, therapeutic strategies and outcome
OUP 2023; 10: 280–286. DOI 10.53180/oup.2023.0280-0286
M. Pavlovi?, V. Ketter, S. Ruchholtz: Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Marburg
Epidemiologie
Die Anzahl implantierter Schulterprothesen nimmt aufgrund des demografischen Wandels sowie des zunehmend breiteren Indikationsspektrums in der letzten Dekade exponentiell zu. Insbesondere die Anzahl inverser Prothesen zeigt in einigen Studien einen Zuwachs von über 1800 % zwischen 2010 und 2019, was hauptsächlich auf den hohen Anteil frakturassoziierter Prothesen zurückzuführen ist [13, 21, 29].
Im Umkehrschluss führt dies auch zu einer zunehmenden Anzahl damit einhergehender Komplikationen. Die häufigsten sind, abhängig vom Prothesentyp und der zugrunde liegenden Indikation, Instabilität und Lockerung der Prothesenkomponenten sowie Infekte und skapuläres Notching [8, 29]. Kumulativ werden bei der Primärimplantation einer Prothese Komplikationsraten von 3–23 % [10, 14, 28] beschrieben sowie Revisionsraten von 2–15 % [8, 11, 16, 29].
Die Inzidenz periprothetischer Humerusfrakturen insgesamt liegt zwischen 0,4–4 % [8, 11, 16, 19, 23, 29], wobei die Rate intraoperativ aufgetretener Frakturen etwas höher liegt als die postoperativ erlittenen PPHF. Im Register der Mayo Clinic wurden über einen Zeitraum von 30 Jahren über 3000 Patientinnen und Patienten nachuntersucht. Hier konnte über ein Follow-up von 10 Jahren eine Rate von 0,6 % postoperativer Frakturen und 1,5 % intraoperativer Frakturen ermittelt werden [2]. In einem kurzen Beobachtungszeitraum von 5 Jahren nach inverser Frakturprothese lag die Revisionsrate aufgrund einer PPHF bei 0,4 % [16] und in einem weiteren Review von Gonzales et al. bei 2 % intraoperativ aufgetretener Frakturen und 1,4 % postoperativer PPHF über ein 2 Jahres-Follow-up. Die Rate intraoperativer PPHF war bei Revisionseingriffen deutlich erhöht auf 24 % und nimmt bei längeren Beobachtungszeiträumen zu [11, 29].
Risikofaktoren
In multivariaten Analysen hat sich bisher lediglich das weibliche Geschlecht als Risikofaktor für intraoperative Frakturen und ein höherer Charlson-Score mit entsprechender Multimorbidität als Risikofaktor für eine postoperative PPHF bestätigt [23]. Darüber hinaus existieren verschiedene Studien, die im Rahmen von univariaten Analysen für intraoperative Frakturen
- a) die Press-Fit Verankerung bei unzementierten Schäften,
- b) den Revisionseingriff bei insgesamt reduzierter Knochenqualität,
- c) die vorbekannte Lockerung des Prothesenschaftes und
- d) die rheumatoide Arthritis [2, 7]
- identifizieren konnten.
Das Verhältnis zwischen Kortikalisdicke und Diaphysenbreite, wie von Gianotti et al. zur Risikobeurteilung proximaler Humerusfrakturen vorgeschlagen [10], war bei 63 % aller periprothetischer Frakturen unter dem Referenzwert von 0,231 [19]. Die Aussagekraft dieses Faktors und die Implikationen für Therapieentscheidungen muss in der Zukunft noch näher evaluiert werden.
Diagnostik
Um ein individuelles Therapiekonzept für Patientinnen und Patienten mit PPHF erstellen zu können, sollten immer möglichst viele der unten genannten Details, neben den Kenntnissen über individuelle Vorerkrankung und vorbestehende Funktionseinschränkungen, bekannt sein. Im eigenen Vorgehen empfehlen wir die Durchführung folgender Basisdiagnostik:
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