Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Skoliose im Kindesalter (early onset scoliosis)
Diagnostik und Therapie

Michael Ruf, Deborah Schray, Gregor Ostrowski, Tobias Pitzen

Zusammenfassung:
Die Skoliose im Kindesalter (im Englischen „early onset skoliosis“ (EOS)) umfasst seit der Neudefinition 2015 alle koronaren Wirbelsäulenkrümmungen bei Kindern unter 10 Jahren. Für die Therapieentscheidungen ist jedoch die Genese der Skoliose relevant. Skoliosen im Kindesalter können kongenital oder neuromuskulär bedingt sein, Syndrom assoziiert auftreten oder sich idiopathisch, also ohne bekannte Ursache, entwickeln. Abhängig von Ursache und somit auch von der Prognose, insbesondere der Progredienz der Krümmung, aber auch von dem Alter der Patienten und auch deren Komorbiditäten, muss das Therapieregime individuell angepasst sein, um den Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden. Neben der konservativen Therapie mit Cast- und Korsettbehandlung muss der Zeitpunkt einer operativen Versorgung insbesondere von der Progredienz und vom Wachstumspotential der Kinder abhängig gemacht werden. Neben Spondylodesen (Fusionen), gibt es bei Kindern zudem die Möglichkeit von wuchslenkenden Verfahren, die das weitere Wachstum zulassen und somit mit einem geringeren Wachstumsdefizit einhergehen. Dieser Artikel soll einen Überblick über die EOS bieten und neben der Diagnostik bei Kindern mit Skoliose vor allem die Entscheidungsfindung hinsichtlich der adäquaten Therapie für EOS Patienten erleichtern: konservatives (Korsett, Physiotherapie) und operatives Vorgehen, Zeitpunkt der operativen Versorgung, Art der operativen Versorgung (Fusion vs. wachstumslenkende Verfahren).

Schlüsselwörter:
Chirurgie, Wirbelsäule, Kind, Skoliose, EOS, kongenital, idiopathisch, neuromuskulär

Zitierweise:
Ruf M, Schray D, Ostrowski G, PitzenT: Skoliose im Kindesalter, Diagnostik und Therapie.
OUP 2020; 9: 228–236 DOI 10.3238/oup.2020.0228–0236

Summary: Early onset scoliosis (EOS) includes all subtypes of coronal spinal deformities in children at the age of 10 years or younger irrespective of the underlying disease. However, all treatment options for EOS depend on the specific etiology, which may be congenital, neuromuscular, syndrome-associated or idiopathic. Moreover, the progression of the curvature, the age of the patients, their comorbidities have a major impact on the individual treatment, that must be adapted to meet the needs of the patients. Treatment options include conservative therapy with casts and brace treatment, as well as surgery. In addition to spinal fusion, in children growth-directing techniques are an important option that allow further growth and are therefore associated with a lower growth deficit. Here, the authors try to provide an overview on EOS and, in addition to diagnostics in children with scoliosis, to facilitate decision-making with regard to adequate therapy for EOS patients. This includes: Indications for conservative treatment (casts, braces, physiotherapy) or surgical treatment, type of surgery (fusion versus growth-directing methods), and timing of surgical treatment.

Keywords: surgery, spine, child, scoliosis, EOS, congenital, idiopathic, neuromuscular

Citation: Ruf M, Schray D, Ostrowski G, PitzenT: Early onset scoliosis, diagnostics and therapy
OUP 2020; 9: 228–236 DOI 10.3238/oup.2020.0228–0236

Michael Ruf, Deborah Schray, Gregor Ostrowski, Tobias Pitzen: SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, Orthopädie und Traumatologie, Karlsbad

Einleitung

Definition

Die „Scoliosis Research Society“ definiert die „Early Onset Skoliose“ (EOS) als Wirbelsäulenverkrümmungen jeglicher Ätiologie, die vor dem 10. Lebensjahr auftreten [11]. Ab einem Krümmungswinkel (Cobb Winkel) von 10 Grad spricht man von einer Skoliose.

Die ersten 10 Lebensjahre sind entscheidend für die pulmonale Entwicklung, und Einschränkungen durch Fehlstellungen der Wirbelsäule oder Deformität des Thorax können in der ersten Lebensdekade substanzielle Veränderungen des Lungengewebes mit daraus resultierenden Atemfunktionsstörungen verursachen [13]. Kinder unter 10 Jahren mit progredienter EOS, insbesondere bei kongenitalen Skoliosen, haben aufgrund der Thoraxveränderungen ein hohes Risiko, an restriktiven Lungenfunktionsstörungen zu erkranken [27]. 34 % der Patienten mit infantiler und kongenitaler Skoliose entwickeln unbehandelt eine moderate oder schwere Ventilationsstörung [20].

Die Therapie der EOS erfordert ein umfassendes Wissen über die Ursachen der Deformität, das Wachstum der Wirbelsäule sowie die physiologische Entwicklung von Thorax und Lunge. Therapieziele sind, die Skoliose zu korrigieren bzw. die Progredienz der Skoliose zu stoppen und dabei ein weiteres Wachstum von Wirbelsäule und Thorax zuzulassen.

Ätiologie

Early Onset Skoliosen können kongenital, idiopathisch, neuromuskulär oder Syndrom assoziiert sein. Die zugrundeliegende Ätiologie ist entscheidend für Prognose und Therapieverlauf und spielt eine wesentliche Rolle bei der Wahl des Therapieverfahrens und -zeitpunkts (Tab. 1).

Kongenitale Skoliose

Kongenitale Skoliosen entstehen auf dem Boden einer Fehlbildung während der Embryonalentwicklung. Es werden Formationsstörungen, Segmentationsstörungen und kombinierte Fehlbildungen differenziert. Die sich daraus entwickelnden Skoliosen unterscheiden sich sowohl in ihrem Progress als auch in den Therapieoptionen.

Formationsstörungen entstehen in der 2.–5. Schwangerschaftswoche durch Beeinträchtigungen der Entstehung von Somiten (Vorläufer der Wirbelsegmente). Ein typisches Beispiel sind Halbwirbel.

Segmentationsstörungen entstehen in der 6.–8. Schwangerschaftswoche bei der Segmentation der Somiten, es können Synostosierungen (Barbildung) verbleiben.

Kombinierte Fehlbildungen sind häufig mit Rippen- und Thoraxbeteiligung und haben eine besonders ungünstige Prognose. Zudem treten gehäuft neurale, kardiale oder urogenitale Begleiterkrankungen auf.

Die konservative Therapie der kongenitalen Skoliose ist nicht zielführend, das asymmetrische Wachstum kann damit nicht aufgehalten werden. Zudem würde die primär flexible kompensatorische Gegenkrümmung durch ein Korsett fixiert. Therapieprinzip ist die frühzeitige operative Versorgung, bevor die Krümmung rigide wird, sich sekundäre Krümmungen entwickeln oder sich neurologische Defizite einstellen.

Kongenitale Skoliosen sollten somit frühzeitig korrigiert werden, um ein weiteres ungestörtes Wachstum der Wirbelsäule zu ermöglichen. Ziel ist hier eine möglichst vollständige Korrektur mittels möglichst kurzer Fusionsstrecke. Bei einfachen Halbwirbeln wird eine Halbwirbel-Resektion über einen dorsalen Zugang mit kurzstreckiger Fusion durchgeführt (Abb. 1a–b).

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