Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Skoliose im Kindesalter (early onset scoliosis)
Diagnostik und Therapie

Bei längerstreckigen Deformitäten kommen auch apikale Korrekturen/Osteotomien in Kombination mit wuchslenkenden Verfahren zum Einsatz. Bei komplexen Fehlbildungen muss jeder Fall individuell geplant werden und die Operationstechnik an Fehlbildung, Wachstumspotenzial und Begleiterkrankungen angepasst werden [24, 25].

Idiopathische Skoliose

Idiopathische EOS sind Skoliosen ohne erkennbare Ursache/Grunderkrankung. Die Einteilung erfolgt üblicherweise nach dem Manifestationszeitpunkt. Hier wird die infantile Skoliose von der juvenilen Skoliose unterschieden.

Infantile Skoliosen entwickeln sich zwischen Geburt und dem 3. Lebensjahr, sie zeigen eine Prävalenz von ca. 1 % in der Bevölkerung. Häufig handelt es sich um skoliotische Fehlhaltungen, die Rate spontaner Remissionen ist hoch (72–92 %) [17].

Juvenile Skoliosen treten zwischen dem 4. und 10. Lebensjahr auf und zeigen meist eine rechtskonvexe Krümmung im Thorakalbereich mit progredienter Verschlechterung (Abb. 2a–c).

Das Progressionsrisiko der juvenilen Skoliose korreliert mit dem gemessenen Cobb Winkel. Bei unter 20° ist mit einer Progression in 16 % der Fälle zu rechnen, bei einem Winkel von über 30° ist eine Progression sicher [6].

Die Therapie der idiopathischen EOS kann zunächst konservativ erfolgen (Physiotherapie/Cast/Brace), bei ausgeprägter Deformität oder Progredienz kommen wuchslenkende operative Verfahren zum Einsatz.

Neuromuskuläre Skoliosen

Neuromuskuläre EOS entstehen aufgrund einer primären Muskelerkrankung oder einer Störung der Innervation der Muskulatur. Dieser Subtyp der EOS ist meist progredient. Das Progressionsrisiko ist abhängig von der Grunderkrankung und der Ausprägung der Skoliose. Insbesondere Patienten nach Trauma, mit Morbus Duchenne, spinaler Muskelatrophie Typ 2 und Myelomeningozele (MMC) entwickeln korrekturbedürftige Skoliosen (Tab. 2).

Eine operative Versorgung ist auf längere Sicht meist unausweichlich. Die Entscheidung zum Operationszeitpunkt orientiert sich an den Beeinträchtigungen, die durch konservative Therapie auftreten können (z.B. Druckstellen durch das Korsett), oder an der Progredienz der Skoliose unter Korsett-Therapie. Zudem sind pulmonale und intestinale Einschränkungen bei zunehmender Krümmung zu erwarten. Bei diesen Patienten sind der Erhalt der Geh- oder Sitzfähigkeit relevant. Je nach Patientenalter und Wachstumspotential kann zunächst mit einem wuchslenkenden Verfahren begonnen werden, im Verlauf erfolgt dann eine finale Fusion (Abb. 3)

Syndrom assoziierte Skoliosen

Verschiedene Syndrome, wie z. B. genetische bedingte Bindegewebserkrankungen (Ehler-Danlos-Syndrom, Marfan-Syndrom, Neurofibromatose Typ I) sind mit Skoliosen assoziiert. Bei diesen Patienten sind insbesondere die Komorbiditäten zu beachten.

Eine interdisziplinäre Therapie dieser Patienten ist wesentlich, um Komplikationen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Hier ist eine Nutzen-Risiko-Abwägung vor jeder Operation besonders wichtig. Wie bereits bei den neuromuskulär verursachten Skoliosen sind bei der Therapieentscheidung die körperlichen Beeinträchtigungen durch die Skoliose therapieentscheidend. Bei stark behinderten Patienten kann eine Skoliosekorrektur der Erleichterung der Pflege dienen. Auch hier können zunächst wuchslenkende Verfahren angewandt werden, abschließend wird meist eine Fusion durchgeführt.

Wachstum

Entwicklung der Wirbelsäule

Um das Wachstumspotential der kindlichen Wirbelsäule und auch die Auswirkungen operativer Eingriffe abschätzen zu können, sind fundierte Kenntnisse zum Wachstum unerlässlich.

Dimeglio et al. lieferte umfassende Daten zum Wachstum der Wirbelsäule im Kindesalter (Abb. 4) [9]. Die ausgewachsene thorakolumbale Wirbelsäule (18. Lebensjahr) hat im Mittel eine Länge von 45 cm. Bei Geburt beträgt sie ca. 20 cm, im Alter von 10 Jahren ist von einer Länge von ca. 35 cm auszugehen [7].

Die Länge der Brustwirbelsäule beträgt bei der Geburt 11 cm, mit 5 Jahren 18 cm und nach Wachstumsende ca. 28 cm. Das longitudinale Wachstum von Geburt bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres beträgt 1,3 cm pro Jahr, vom 5.–10. Lebensjahr 0,7 cm pro Jahr. Eine im Kindesalter aufgetretene Wachstumsstörung der BWS hat eine Rumpfverkürzung im Erwachsenenalter zur Folge [8].

Je früher die Wachstumsstörung auftritt und je mehr Segmente beteiligt sind, desto relevanter ist die Höhenminderung. Die kritische Höhe der BWS nach Wachstumsende liegt bei 18 cm. Darunter ist mit einer schweren respiratorischen Insuffizienz zu rechnen [15].

Die Länge der Lendenwirbelsäule (LWS) beträgt bei der Geburt ca. 7 cm und nach Wachstumsende 16 cm [8].

Entwicklung von Thoraxvolumen und Lungenparenchym

Für die Lungenentwicklung sind die ersten Lebensjahre entscheidend. Das Brustkorbvolumen beträgt bei Geburt ca. 6 % des Volumens eines Erwachsenen, mit 5 Jahren 30 % und im Alter von 10 Jahren haben Kinder 50 % des Brustkorbvolumens eines Erwachsenen erreicht. Das Thoraxvolumen verdoppelt sich in der Pubertätsphase überwiegend durch Zunahme der Zirkumferenz und nicht mehr wesentlich über die Länge der Wirbelsäule [8].

Nicht nur das Lungenvolumen, sondern auch das Lungengewebe kann bei Patienten mit EOS beeinträchtigt sein. Bei begleitenden Thoraxdeformitäten zeigt sich eine deutlich geringere Anzahl an Alveolen, zudem entwickeln diese Kinder signifikant mehr emphysematöse Veränderungen der Lunge. Die Entwicklung des bronchialen Systems ist im Alter von 9 Jahren abgeschlossen. Dies bedeutet, dass die bis zu diesem Zeitpunkt aufgetretenen Parenchymveränderungen irreversibel sind [29].

Die Atemfunktion ist nicht nur volumengebunden, sondern eine komplexe dynamische Interaktion zwischen Wirbelsäule, Rippen, Brustkorb, Brustwand, Atemmuskulatur und Lungenparenchym. Deformitäten oder Asymmetrien führen zur Beeinträchtigung der Mobilität und zu signifikanten Funktionsstörungen des „kosto-vertebro-sternalen“ Komplexes. Daher ist eine Wiederherstellung der regelrechten Form und Symmetrie des Brustkorbs von entscheidender funktioneller Bedeutung und soll angestrebt werden.

Diagnostik

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