Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Skoliose im Kindesalter (early onset scoliosis)
Diagnostik und Therapie

Die Gipsredression, die von Mehta beschriebene Techniken des seriellen Castings, sind gut dokumentiert und zeigen Erfolge in der konservativen Behandlung der idiopathischen frühkindlichen Skoliose. Das serielle Casting kann in der Regel bei Kindern bis zum 5. Lebensjahr gut durchgeführt werden. Die in Narkose auf einem speziellen Gipstisch (Risser-Tisch) durchgeführte derotierende und extendierende Gipsredression sollte bei korrekter Anwendung keine zusätzliche Deformierung des Brustkorbs zur Folge haben. Durch die seriellen Gipse soll eine Derotation und Begradigung der Krümmung erreicht werden. Insgesamt wird der Gips dreimal redressiert und das Gipskorsett wird für jeweils einen Monat getragen [19].

Die Korsetttherapie hat den größten Stellenwert in der konservativen Behandlung der idiopathischen EOS und ist ab einem Cobb Winkel von ca. 20° indiziert. Für eine erfolgreiche Korsettbehandlung unabdingbar ist eine enge Kooperation zwischen Orthopäde, Orthopädietechniker und auch Physiotherapeut. Die Primärkorrektur der Deformität im Korsett sollte mindestens 50 % betragen. In mindestens halbjährlichen ärztlichen Kontrollen muss die Passform überwacht werden. Schlechte Passform kann insbesondere bei Kleinkindern zu Fehlverteilung des Druckes führen und Druckstellen oder Fehlhaltungen verursachen [19]. Weit verbreitet sind das Boston-Korsett und das modifizierte Chêneau-Korsett [30]. Für den Erfolg ist neben der korrekten Passform auch die Compliance der Patienten wichtig. Nur bei ausreichender Tragedauer kann die konservative Therapie zum Ziel führen. Bei Tragedauer über 12 Stunden pro Tag konnte gezeigt werden, dass es bei 82 % der Patienten zu keiner Progredienz der Skoliose kam [16].

Operative Therapie

Indikation

Die Indikation zur operativen Therapie und der Zeitpunkt einer operativen Versorgung hängen in erster Linie von der Ätiologie der Skoliose ab. Zudem sollte die Entscheidung zur Operation von Progredienz und der Ausbildung sekundärer Krümmungen abhängig gemacht werden. Des Weiteren sind pulmonale, kardiale und intestinale Einschränkungen zu berücksichtigen. Der Cobb-Winkel ist von sekundärer Bedeutung. Bei idiopathischer EOS besteht jedoch im Allgemeinen eine Operationsindikation bei Progression über 50°. Die Auswahl des geeigneten Operationsverfahrens richtet sich nach Ausmaß der Deformität, der Lokalisation und dem zu erwartenden weiteren Wachstum. Hier spielen Patientenalter, aber auch Knochenalter, Körpergröße, Wachstumsdynamik sowie Faktoren wie Risser Stadium, Menarche, Größe der Eltern bei der Entscheidungsfindung eine Rolle. Der Einfluss des gewählten Operationsverfahrens auf das weitere Wachstum muss möglichst exakt antizipiert werden. Bei der Vielzahl möglicher Ätiologien und Verlaufsformen muss jede Indikation individuell gestellt und mit der Familie diskutiert werden.

Ziele

Primäres Ziel einer operativen Therapie der kindlichen Skoliose ist es, die Krümmung zu korrigieren bzw. den Progress der Skoliose aufzuhalten, ohne dabei das weitere Wachstum von Wirbelsäule und Thorax zu behindern. Die Genese der EOS definiert zudem den Anspruch, der an die operative Versorgung gestellt wird.

Kongenitale Skoliosen sollten möglichst kausal am Ort der Fehlbildung komplett mit kurzstreckiger Fusion korrigiert werden (z.B. Halbwirbelresektion).

Bei progedienten idiopathischen Skoliosen ist das Ziel die möglichst anatomische dreidimensionale Korrektur mit lotgerechter Ausrichtung der Wirbelsäule, normalem sagittalen Profil sowie einer guten Korrektur von Rippenbuckel und Schulterstand. Dabei sollten sowohl das Längenwachstum als auch die Beweglichkeit möglichst wenig eingeschränkt werden.

Bei neuromuskulären oder Syndrom assoziierten Skoliosen steht das funktionelle Ergebnis im Vordergrund. Je nach Ausgangsbefund kann das Ziel im Erhalt bzw. der Wiederherstellung der Geh- oder Sitzfähigkeit bestehen, in der Erleichterung der Pflege, sowie im Erhalt/Verbesserung der pulmonalen, kardialen und gastrointestinalen Funktion.

Cave: Sowohl kongenitale als auch neuromuskuläre und Syndrom assoziierte Skoliosen sind unbehandelt mit einem deutlich erhöhten Risiko für eine restriktive Ateminsuffizienz assoziiert, einhergehend mit einer 3-fach erhöhten Mortalität ab dem 50. Lebensjahr [22]. Eine Verbesserung der pulmonalen Situation ist daher essentielles Ziel.

Verfahren

Fusion

Primäre Spondylodeseoperationen spielen bei frühkindlichen Skoliosen eine eher untergeordnete Rolle. Ausgenommen sind hier die kongenitalen Skoliosen und kurzbogig/anguläre Skoliosen, bei denen die lokale Deformität häufig über eine kurzstreckige Korrektur und Fusion komplett beseitigt werden kann. Dies sollte möglichst frühzeitig im Kleinkindesalter erfolgen, um ein physiologisches Wachstum der übrigen Wirbelsäule zu ermöglich (Abb. 1a–b).

Zugang: Korrekturen und Spondylodesen sollten im Kindesalter möglichst über einen dorsalen Zugang erfolgen. Thorakotomien können per se zu Wachstumsstörungen mit Skoliose führen und sollten vermieden werden. Lediglich cervikal und am lumbosakralen Übergang können zusätzliche ventrale Zugänge erforderlich werden.

Fusionslänge: Vor jeder Fusion bei EOS sollte die Auswirkung auf das weitere Wachstumsdefizit eingeschätzt werden. Die Daten von Dimeglio (Abb. 4) [9] auf einzelne Wirbel heruntergebrochen, ergeben je nach Lokalisation und Alter ein Höhenwachstum von 0,6–1,4 mm pro Wirbel und Jahr. Das zu erwartende Wachstumsdefizit bei Wachstumsabschluss kann daher in Abhängigkeit von der Anzahl der fusionierten Segmente, der Lokalisation und dem Alter bei Operation gut abgeschätzt werden.

Karol et al. konnten zeigen, dass die Anzahl der fusionierten Wirbelsäulensegmente eng mit einer Verringerung der Vitalkapazität korreliert. Um restriktive Lungenfunktionsstörungen im Erwachsenenalter zu vermeiden, sollte die Thoraxhöhe (Th1–Th12) 18 cm bei Wachstumsabschluss nicht unterschreiten [15].

Wuchslenkung

Um langstreckige Fusionen und damit Wachstumsdefizite zu vermeiden, werden insbesondere bei progredienten idiopathischen Skoliosen wuchslenkende Instrumentationen bevorzugt. Auch bei neuromuskulären und Syndrom assoziierten Skoliosen ist die wuchslenkende Versorgung eine Therapieoption. Es stehen dorsale und ventrale Wirbelsäulen- und rippenbasierte Verfahren zur Verfügung.

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