Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Skoliose im Kindesalter (early onset scoliosis)
Diagnostik und Therapie

Michael Ruf, Deborah Schray, Gregor Ostrowski, Tobias Pitzen

Zusammenfassung:
Die Skoliose im Kindesalter (im Englischen „early onset skoliosis“ (EOS)) umfasst seit der Neudefinition 2015 alle koronaren Wirbelsäulenkrümmungen bei Kindern unter 10 Jahren. Für die Therapieentscheidungen ist jedoch die Genese der Skoliose relevant. Skoliosen im Kindesalter können kongenital oder neuromuskulär bedingt sein, Syndrom assoziiert auftreten oder sich idiopathisch, also ohne bekannte Ursache, entwickeln. Abhängig von Ursache und somit auch von der Prognose, insbesondere der Progredienz der Krümmung, aber auch von dem Alter der Patienten und auch deren Komorbiditäten, muss das Therapieregime individuell angepasst sein, um den Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden. Neben der konservativen Therapie mit Cast- und Korsettbehandlung muss der Zeitpunkt einer operativen Versorgung insbesondere von der Progredienz und vom Wachstumspotential der Kinder abhängig gemacht werden. Neben Spondylodesen (Fusionen), gibt es bei Kindern zudem die Möglichkeit von wuchslenkenden Verfahren, die das weitere Wachstum zulassen und somit mit einem geringeren Wachstumsdefizit einhergehen. Dieser Artikel soll einen Überblick über die EOS bieten und neben der Diagnostik bei Kindern mit Skoliose vor allem die Entscheidungsfindung hinsichtlich der adäquaten Therapie für EOS Patienten erleichtern: konservatives (Korsett, Physiotherapie) und operatives Vorgehen, Zeitpunkt der operativen Versorgung, Art der operativen Versorgung (Fusion vs. wachstumslenkende Verfahren).

Schlüsselwörter:
Chirurgie, Wirbelsäule, Kind, Skoliose, EOS, kongenital, idiopathisch, neuromuskulär

Zitierweise:
Ruf M, Schray D, Ostrowski G, PitzenT: Skoliose im Kindesalter, Diagnostik und Therapie.
OUP 2020; 9: 228–236 DOI 10.3238/oup.2020.0228–0236

Summary: Early onset scoliosis (EOS) includes all subtypes of coronal spinal deformities in children at the age of 10 years or younger irrespective of the underlying disease. However, all treatment options for EOS depend on the specific etiology, which may be congenital, neuromuscular, syndrome-associated or idiopathic. Moreover, the progression of the curvature, the age of the patients, their comorbidities have a major impact on the individual treatment, that must be adapted to meet the needs of the patients. Treatment options include conservative therapy with casts and brace treatment, as well as surgery. In addition to spinal fusion, in children growth-directing techniques are an important option that allow further growth and are therefore associated with a lower growth deficit. Here, the authors try to provide an overview on EOS and, in addition to diagnostics in children with scoliosis, to facilitate decision-making with regard to adequate therapy for EOS patients. This includes: Indications for conservative treatment (casts, braces, physiotherapy) or surgical treatment, type of surgery (fusion versus growth-directing methods), and timing of surgical treatment.

Keywords: surgery, spine, child, scoliosis, EOS, congenital, idiopathic, neuromuscular

Citation: Ruf M, Schray D, Ostrowski G, PitzenT: Early onset scoliosis, diagnostics and therapy
OUP 2020; 9: 228–236 DOI 10.3238/oup.2020.0228–0236

Michael Ruf, Deborah Schray, Gregor Ostrowski, Tobias Pitzen: SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, Orthopädie und Traumatologie, Karlsbad

Einleitung

Definition

Die „Scoliosis Research Society“ definiert die „Early Onset Skoliose“ (EOS) als Wirbelsäulenverkrümmungen jeglicher Ätiologie, die vor dem 10. Lebensjahr auftreten [11]. Ab einem Krümmungswinkel (Cobb Winkel) von 10 Grad spricht man von einer Skoliose.

Die ersten 10 Lebensjahre sind entscheidend für die pulmonale Entwicklung, und Einschränkungen durch Fehlstellungen der Wirbelsäule oder Deformität des Thorax können in der ersten Lebensdekade substanzielle Veränderungen des Lungengewebes mit daraus resultierenden Atemfunktionsstörungen verursachen [13]. Kinder unter 10 Jahren mit progredienter EOS, insbesondere bei kongenitalen Skoliosen, haben aufgrund der Thoraxveränderungen ein hohes Risiko, an restriktiven Lungenfunktionsstörungen zu erkranken [27]. 34 % der Patienten mit infantiler und kongenitaler Skoliose entwickeln unbehandelt eine moderate oder schwere Ventilationsstörung [20].

Die Therapie der EOS erfordert ein umfassendes Wissen über die Ursachen der Deformität, das Wachstum der Wirbelsäule sowie die physiologische Entwicklung von Thorax und Lunge. Therapieziele sind, die Skoliose zu korrigieren bzw. die Progredienz der Skoliose zu stoppen und dabei ein weiteres Wachstum von Wirbelsäule und Thorax zuzulassen.

Ätiologie

Early Onset Skoliosen können kongenital, idiopathisch, neuromuskulär oder Syndrom assoziiert sein. Die zugrundeliegende Ätiologie ist entscheidend für Prognose und Therapieverlauf und spielt eine wesentliche Rolle bei der Wahl des Therapieverfahrens und -zeitpunkts (Tab. 1).

Kongenitale Skoliose

Kongenitale Skoliosen entstehen auf dem Boden einer Fehlbildung während der Embryonalentwicklung. Es werden Formationsstörungen, Segmentationsstörungen und kombinierte Fehlbildungen differenziert. Die sich daraus entwickelnden Skoliosen unterscheiden sich sowohl in ihrem Progress als auch in den Therapieoptionen.

Formationsstörungen entstehen in der 2.–5. Schwangerschaftswoche durch Beeinträchtigungen der Entstehung von Somiten (Vorläufer der Wirbelsegmente). Ein typisches Beispiel sind Halbwirbel.

Segmentationsstörungen entstehen in der 6.–8. Schwangerschaftswoche bei der Segmentation der Somiten, es können Synostosierungen (Barbildung) verbleiben.

Kombinierte Fehlbildungen sind häufig mit Rippen- und Thoraxbeteiligung und haben eine besonders ungünstige Prognose. Zudem treten gehäuft neurale, kardiale oder urogenitale Begleiterkrankungen auf.

Die konservative Therapie der kongenitalen Skoliose ist nicht zielführend, das asymmetrische Wachstum kann damit nicht aufgehalten werden. Zudem würde die primär flexible kompensatorische Gegenkrümmung durch ein Korsett fixiert. Therapieprinzip ist die frühzeitige operative Versorgung, bevor die Krümmung rigide wird, sich sekundäre Krümmungen entwickeln oder sich neurologische Defizite einstellen.

Kongenitale Skoliosen sollten somit frühzeitig korrigiert werden, um ein weiteres ungestörtes Wachstum der Wirbelsäule zu ermöglichen. Ziel ist hier eine möglichst vollständige Korrektur mittels möglichst kurzer Fusionsstrecke. Bei einfachen Halbwirbeln wird eine Halbwirbel-Resektion über einen dorsalen Zugang mit kurzstreckiger Fusion durchgeführt (Abb. 1a–b).

Bei längerstreckigen Deformitäten kommen auch apikale Korrekturen/Osteotomien in Kombination mit wuchslenkenden Verfahren zum Einsatz. Bei komplexen Fehlbildungen muss jeder Fall individuell geplant werden und die Operationstechnik an Fehlbildung, Wachstumspotenzial und Begleiterkrankungen angepasst werden [24, 25].

Idiopathische Skoliose

Idiopathische EOS sind Skoliosen ohne erkennbare Ursache/Grunderkrankung. Die Einteilung erfolgt üblicherweise nach dem Manifestationszeitpunkt. Hier wird die infantile Skoliose von der juvenilen Skoliose unterschieden.

Infantile Skoliosen entwickeln sich zwischen Geburt und dem 3. Lebensjahr, sie zeigen eine Prävalenz von ca. 1 % in der Bevölkerung. Häufig handelt es sich um skoliotische Fehlhaltungen, die Rate spontaner Remissionen ist hoch (72–92 %) [17].

Juvenile Skoliosen treten zwischen dem 4. und 10. Lebensjahr auf und zeigen meist eine rechtskonvexe Krümmung im Thorakalbereich mit progredienter Verschlechterung (Abb. 2a–c).

Das Progressionsrisiko der juvenilen Skoliose korreliert mit dem gemessenen Cobb Winkel. Bei unter 20° ist mit einer Progression in 16 % der Fälle zu rechnen, bei einem Winkel von über 30° ist eine Progression sicher [6].

Die Therapie der idiopathischen EOS kann zunächst konservativ erfolgen (Physiotherapie/Cast/Brace), bei ausgeprägter Deformität oder Progredienz kommen wuchslenkende operative Verfahren zum Einsatz.

Neuromuskuläre Skoliosen

Neuromuskuläre EOS entstehen aufgrund einer primären Muskelerkrankung oder einer Störung der Innervation der Muskulatur. Dieser Subtyp der EOS ist meist progredient. Das Progressionsrisiko ist abhängig von der Grunderkrankung und der Ausprägung der Skoliose. Insbesondere Patienten nach Trauma, mit Morbus Duchenne, spinaler Muskelatrophie Typ 2 und Myelomeningozele (MMC) entwickeln korrekturbedürftige Skoliosen (Tab. 2).

Eine operative Versorgung ist auf längere Sicht meist unausweichlich. Die Entscheidung zum Operationszeitpunkt orientiert sich an den Beeinträchtigungen, die durch konservative Therapie auftreten können (z.B. Druckstellen durch das Korsett), oder an der Progredienz der Skoliose unter Korsett-Therapie. Zudem sind pulmonale und intestinale Einschränkungen bei zunehmender Krümmung zu erwarten. Bei diesen Patienten sind der Erhalt der Geh- oder Sitzfähigkeit relevant. Je nach Patientenalter und Wachstumspotential kann zunächst mit einem wuchslenkenden Verfahren begonnen werden, im Verlauf erfolgt dann eine finale Fusion (Abb. 3)

Syndrom assoziierte Skoliosen

Verschiedene Syndrome, wie z. B. genetische bedingte Bindegewebserkrankungen (Ehler-Danlos-Syndrom, Marfan-Syndrom, Neurofibromatose Typ I) sind mit Skoliosen assoziiert. Bei diesen Patienten sind insbesondere die Komorbiditäten zu beachten.

Eine interdisziplinäre Therapie dieser Patienten ist wesentlich, um Komplikationen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Hier ist eine Nutzen-Risiko-Abwägung vor jeder Operation besonders wichtig. Wie bereits bei den neuromuskulär verursachten Skoliosen sind bei der Therapieentscheidung die körperlichen Beeinträchtigungen durch die Skoliose therapieentscheidend. Bei stark behinderten Patienten kann eine Skoliosekorrektur der Erleichterung der Pflege dienen. Auch hier können zunächst wuchslenkende Verfahren angewandt werden, abschließend wird meist eine Fusion durchgeführt.

Wachstum

Entwicklung der Wirbelsäule

Um das Wachstumspotential der kindlichen Wirbelsäule und auch die Auswirkungen operativer Eingriffe abschätzen zu können, sind fundierte Kenntnisse zum Wachstum unerlässlich.

Dimeglio et al. lieferte umfassende Daten zum Wachstum der Wirbelsäule im Kindesalter (Abb. 4) [9]. Die ausgewachsene thorakolumbale Wirbelsäule (18. Lebensjahr) hat im Mittel eine Länge von 45 cm. Bei Geburt beträgt sie ca. 20 cm, im Alter von 10 Jahren ist von einer Länge von ca. 35 cm auszugehen [7].

Die Länge der Brustwirbelsäule beträgt bei der Geburt 11 cm, mit 5 Jahren 18 cm und nach Wachstumsende ca. 28 cm. Das longitudinale Wachstum von Geburt bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres beträgt 1,3 cm pro Jahr, vom 5.–10. Lebensjahr 0,7 cm pro Jahr. Eine im Kindesalter aufgetretene Wachstumsstörung der BWS hat eine Rumpfverkürzung im Erwachsenenalter zur Folge [8].

Je früher die Wachstumsstörung auftritt und je mehr Segmente beteiligt sind, desto relevanter ist die Höhenminderung. Die kritische Höhe der BWS nach Wachstumsende liegt bei 18 cm. Darunter ist mit einer schweren respiratorischen Insuffizienz zu rechnen [15].

Die Länge der Lendenwirbelsäule (LWS) beträgt bei der Geburt ca. 7 cm und nach Wachstumsende 16 cm [8].

Entwicklung von Thoraxvolumen und Lungenparenchym

Für die Lungenentwicklung sind die ersten Lebensjahre entscheidend. Das Brustkorbvolumen beträgt bei Geburt ca. 6 % des Volumens eines Erwachsenen, mit 5 Jahren 30 % und im Alter von 10 Jahren haben Kinder 50 % des Brustkorbvolumens eines Erwachsenen erreicht. Das Thoraxvolumen verdoppelt sich in der Pubertätsphase überwiegend durch Zunahme der Zirkumferenz und nicht mehr wesentlich über die Länge der Wirbelsäule [8].

Nicht nur das Lungenvolumen, sondern auch das Lungengewebe kann bei Patienten mit EOS beeinträchtigt sein. Bei begleitenden Thoraxdeformitäten zeigt sich eine deutlich geringere Anzahl an Alveolen, zudem entwickeln diese Kinder signifikant mehr emphysematöse Veränderungen der Lunge. Die Entwicklung des bronchialen Systems ist im Alter von 9 Jahren abgeschlossen. Dies bedeutet, dass die bis zu diesem Zeitpunkt aufgetretenen Parenchymveränderungen irreversibel sind [29].

Die Atemfunktion ist nicht nur volumengebunden, sondern eine komplexe dynamische Interaktion zwischen Wirbelsäule, Rippen, Brustkorb, Brustwand, Atemmuskulatur und Lungenparenchym. Deformitäten oder Asymmetrien führen zur Beeinträchtigung der Mobilität und zu signifikanten Funktionsstörungen des „kosto-vertebro-sternalen“ Komplexes. Daher ist eine Wiederherstellung der regelrechten Form und Symmetrie des Brustkorbs von entscheidender funktioneller Bedeutung und soll angestrebt werden.

Diagnostik

Zu jeder Diagnostik gehört selbstverständlich eine ausführliche Anamnese. Hier sollten neben Vorerkrankungen insbesondere Auffälligkeiten während Schwangerschaft und Geburt erfragt werden. Die bisherige zerebrale und motorische Entwicklung der Kinder ist ebenfalls relevant, auch die Familienanamnese kann hinsichtlich etwaiger Vorerkrankungen Aufschluss geben. Wichtig sind zudem Einflussfaktoren wie Traumata, Operationen, vorangegangene Therapien wie z.B. Bestrahlungen.

Körperliche Untersuchung

Im Rahmen der körperlichen Untersuchung sollten neben den wirbelsäulenspezifischen Parametern wie Krümmungslokalisation, Torsion und Flexibilität, auch Thoraxform, Atembeweglichkeit, Kopfkontrolle und Gleichgewichtswahrnehmung untersucht werden. Für Rückschlüsse auf die Korrekturkapazität ist zudem die Mobilität der Wirbelsäule wichtig, insbesondere die aktive Aufrichtung der Wirbelsäule. Bei der neurologischen Untersuchung sollen selbst geringe Auffälligkeiten oder Reflexasymmetrien den Verdacht auf eine neurologische Ursache wecken. Die Inspektion der Haut kann zudem Hinweise auf zugrundeliegende Erkrankungen geben, hier sollte die Haut auf Café-au-Lait-Flecken (Neurofibromatose) oder kutane Stigmata für eine okkulte Dysraphie inspiziert werden („hairy patch“).

Konventionelles Röntgen

Bei Hinweisen auf eine strukturelle Wirbelsäulendeformität sollte eine Röntgenuntersuchung veranlasst werden. Goldstandard ist die Darstellung der gesamten Wirbelsäule in 2 Ebenen, stehend bei mobilen Patienten oder sitzend bei nicht gehfähigen Kindern. Neuere Techniken (EOS Imaging) erlauben eine partiell dreidimensionale Auswertung und können insbesondere bei wiederholten Untersuchungen (Verlaufskontrollen) die Strahlendosis reduzieren. Weiterführend, insbesondere im Hinblick auf eine operative Maßnahme, geben Bendingaufnahmen in beide Richtungen sowie Aufnahmen unter Traktion Aufschluss über die Korrekturfähigkeit der Wirbelsäule. Diese Aufnahmen geben Hinweise darauf, welche Abschnitte der Wirbelsäule bereits rigide sind (und operativ korrigiert werden müssen) und welche Abschnitte noch flexibel sind (und sich postoperativ spontan korrigieren können). Das Ausmaß der Skoliose wird mittels Cobb-Winkel radiologisch in der Wirbelsäulen-a.-p.-Aufnahme in Grad bestimmt.

MRT

Die Magnetresonanztomographie (MRT) dient in erster Linie zum Ausschluss begleitender oder ursächlicher intraspinaler Anomalien. Selbst bei unauffälligem neurologischen Befund wurden in ca. 20 % der Fälle mit EOS intraspinale Anomalien beobachtet [9, 21]. Die komplette Achse von Hirnstamm bis Sakrumspitze sollte dargestellt werden. Eine MRT ist bei Krümmungen über 20 ° mit Progress oder bei neurologischen Defiziten obligat [14]. Die häufigsten in der MRT beobachteten Entitäten sind die Arnold-Chiari-Malformation, der Konustiefstand (nach dem 1. Lebensjahr sollte die Konusspitze über der Grundplatte des 2. Lendenwirbels liegen), das Tethered Cord/verdickte Filum terminale, die Syringomyelie sowie die Diastematomyelie.

Computertomographie

Die Computertomographie gibt Aufschluss über knöcherne Anomalien oder Fehlbildungen. Insbesondere bei Vorbereitung zur operativen Versorgung gibt die CT Aufschluss über die knöcherne Deformität sowie über die Pedikelform und -größe und unterstützt somit die Planung/Implantatauswahl. Dreidimensionale Darstellungen sorgen für ein besseres Verständnis von komplexen Deformitäten.

Lungenfunktionsdiagnostik

Bei ausgeprägter Skoliose mit Beteiligung des knöchernen Thorax sollte eine Lungenfunktionsuntersuchung erfolgen. Die am häufigsten durchgeführte Lungenfunktionsmessung ist die Spirometrie. Hierbei sind sowohl die Lungenvolumina relevant, als auch der Fluss des Atemstroms. In der Fluss-Volumen-Kurve wird die Lungenfunktion erfasst. Die Messung ist stark von der optimalen Mitarbeit abhängig, bei Kleinkindern meist also nicht durchführbar. Das Thoraxvolumen kann auch über ein low-dose CT-Thorax vermessen werden [13].

Die Lungenfunktionsdiagnostik ist in erster Linie relevant, um die Dringlichkeit einer Operation abzuschätzen, dient aber auch zur Abschätzung des Narkoserisikos und als Verlaufsparameter postoperativ. Aufschluss geben hier u.a. die Vitalkapazität (VC) als Maß für die Ausdehnungsfähigkeit von Lunge und Thorax, aber auch dynamische Messwerte wie die Einsekundenkapazität zur Beurteilung des Bronchialssystems.

Therapie

Ziel ist eine frühzeitige und konsequente Therapie der Skoliose. Insbesondere die kongenitalen Skoliosen mit angeborenen Wirbelkörperfehlbildungen oder die komplexen Fehlbildungen einschließlich Thoraxdysplasien oder spondylokostaler Dysplasien (z.B. Jarcho-Levin-Syndrom) bedürfen einer spezifischen und frühzeitigen Behandlung.

Die individuelle Therapiestrategie bei einem Kind mit EOS stützt sich auf eine Vielzahl von Prinzipien:

  • 1. Die Therapie der Skoliose umfasst die gesamte Wachstumsphase der Patienten.
  • 2. Die Begleiterkrankungen bzw. zugrundeliegenden Erkrankungen spielen für eine Therapieplanung eine wesentliche Rolle.
  • 3. Die Entscheidung bezüglich des Operationszeitpunkts und des Operationsverfahrens hängt von multiplen Faktoren ab. Hier sind Ausmaß und Progress der Krümmung, Alter der Patienten, Wachstumspotential der Patienten bzw. Wirbelsäule, Begleiterkrankungen sowie Einschränkung der Lungenfunktion und eventuelle motorische Defizite relevant.
  • 4. Für jedes Kind sollte individuell eine Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen.

Verlaufskontrollen: Grundsätzlich müssen Patienten mit EOS über die gesamte Wachstumsphase betreut werden, es werden je nach Progress der Skoliose regelmäßige, meist halbjährliche oder jährliche klinisch und radiologische Verlaufskontrollen geplant. Ideal ist eine standardisierte Fotodokumentation. Zudem müssen insbesondere in den Phasen starken Wirbelsäulenwachstums, bis zum 5. Lebensjahr und in der Pubertät, engmaschigere Kontrollen durchgeführt werden.

Konservative Therapie

Die konservative Therapie ist insbesondere bei idiopathischen early-onset Skoliosen eine wichtige Therapieoption. Auch bei neuromuskulären und Syndrom assoziierten Skoliosen hat die konservative Therapie einen hohen Stellenwert, in erster Linie aber, um Zeit zu gewinnen (und Wachstum zuzulassen) bis zur operativen Versorgung. Bei der kongenitalen Skoliose spielt die konservative Therapie keine wesentliche Rolle, eine Versorgung mittels Korsett ist kontraproduktiv.

Ein konservatives Vorgehen beinhaltet meist Physiotherapie begleitend zur Korsetttherapie. Insbesondere bei mild ausgeprägten Skoliosen (Cobb-Winkel < 20°) sollte frühzeitig mit einer spezifischen Krankengymnastik begonnen werden. Ziel sollte hier eine Kräftigung der Muskulatur sein, sekundäre Funktionsstörungen sollten frühzeitig angegangen und idealerweise somit vermieden werden. Bei idiopathischen Skoliosen im Adoleszentenalter konnte sich in kleiner angelegten Studien ein Effekt durch wirbelsäulenspezifische Krankengymnastik nachweisen lassen. Bei EOS ist die Datenlage allerdings nicht aussagekräftig [26].

Die Gipsredression, die von Mehta beschriebene Techniken des seriellen Castings, sind gut dokumentiert und zeigen Erfolge in der konservativen Behandlung der idiopathischen frühkindlichen Skoliose. Das serielle Casting kann in der Regel bei Kindern bis zum 5. Lebensjahr gut durchgeführt werden. Die in Narkose auf einem speziellen Gipstisch (Risser-Tisch) durchgeführte derotierende und extendierende Gipsredression sollte bei korrekter Anwendung keine zusätzliche Deformierung des Brustkorbs zur Folge haben. Durch die seriellen Gipse soll eine Derotation und Begradigung der Krümmung erreicht werden. Insgesamt wird der Gips dreimal redressiert und das Gipskorsett wird für jeweils einen Monat getragen [19].

Die Korsetttherapie hat den größten Stellenwert in der konservativen Behandlung der idiopathischen EOS und ist ab einem Cobb Winkel von ca. 20° indiziert. Für eine erfolgreiche Korsettbehandlung unabdingbar ist eine enge Kooperation zwischen Orthopäde, Orthopädietechniker und auch Physiotherapeut. Die Primärkorrektur der Deformität im Korsett sollte mindestens 50 % betragen. In mindestens halbjährlichen ärztlichen Kontrollen muss die Passform überwacht werden. Schlechte Passform kann insbesondere bei Kleinkindern zu Fehlverteilung des Druckes führen und Druckstellen oder Fehlhaltungen verursachen [19]. Weit verbreitet sind das Boston-Korsett und das modifizierte Chêneau-Korsett [30]. Für den Erfolg ist neben der korrekten Passform auch die Compliance der Patienten wichtig. Nur bei ausreichender Tragedauer kann die konservative Therapie zum Ziel führen. Bei Tragedauer über 12 Stunden pro Tag konnte gezeigt werden, dass es bei 82 % der Patienten zu keiner Progredienz der Skoliose kam [16].

Operative Therapie

Indikation

Die Indikation zur operativen Therapie und der Zeitpunkt einer operativen Versorgung hängen in erster Linie von der Ätiologie der Skoliose ab. Zudem sollte die Entscheidung zur Operation von Progredienz und der Ausbildung sekundärer Krümmungen abhängig gemacht werden. Des Weiteren sind pulmonale, kardiale und intestinale Einschränkungen zu berücksichtigen. Der Cobb-Winkel ist von sekundärer Bedeutung. Bei idiopathischer EOS besteht jedoch im Allgemeinen eine Operationsindikation bei Progression über 50°. Die Auswahl des geeigneten Operationsverfahrens richtet sich nach Ausmaß der Deformität, der Lokalisation und dem zu erwartenden weiteren Wachstum. Hier spielen Patientenalter, aber auch Knochenalter, Körpergröße, Wachstumsdynamik sowie Faktoren wie Risser Stadium, Menarche, Größe der Eltern bei der Entscheidungsfindung eine Rolle. Der Einfluss des gewählten Operationsverfahrens auf das weitere Wachstum muss möglichst exakt antizipiert werden. Bei der Vielzahl möglicher Ätiologien und Verlaufsformen muss jede Indikation individuell gestellt und mit der Familie diskutiert werden.

Ziele

Primäres Ziel einer operativen Therapie der kindlichen Skoliose ist es, die Krümmung zu korrigieren bzw. den Progress der Skoliose aufzuhalten, ohne dabei das weitere Wachstum von Wirbelsäule und Thorax zu behindern. Die Genese der EOS definiert zudem den Anspruch, der an die operative Versorgung gestellt wird.

Kongenitale Skoliosen sollten möglichst kausal am Ort der Fehlbildung komplett mit kurzstreckiger Fusion korrigiert werden (z.B. Halbwirbelresektion).

Bei progedienten idiopathischen Skoliosen ist das Ziel die möglichst anatomische dreidimensionale Korrektur mit lotgerechter Ausrichtung der Wirbelsäule, normalem sagittalen Profil sowie einer guten Korrektur von Rippenbuckel und Schulterstand. Dabei sollten sowohl das Längenwachstum als auch die Beweglichkeit möglichst wenig eingeschränkt werden.

Bei neuromuskulären oder Syndrom assoziierten Skoliosen steht das funktionelle Ergebnis im Vordergrund. Je nach Ausgangsbefund kann das Ziel im Erhalt bzw. der Wiederherstellung der Geh- oder Sitzfähigkeit bestehen, in der Erleichterung der Pflege, sowie im Erhalt/Verbesserung der pulmonalen, kardialen und gastrointestinalen Funktion.

Cave: Sowohl kongenitale als auch neuromuskuläre und Syndrom assoziierte Skoliosen sind unbehandelt mit einem deutlich erhöhten Risiko für eine restriktive Ateminsuffizienz assoziiert, einhergehend mit einer 3-fach erhöhten Mortalität ab dem 50. Lebensjahr [22]. Eine Verbesserung der pulmonalen Situation ist daher essentielles Ziel.

Verfahren

Fusion

Primäre Spondylodeseoperationen spielen bei frühkindlichen Skoliosen eine eher untergeordnete Rolle. Ausgenommen sind hier die kongenitalen Skoliosen und kurzbogig/anguläre Skoliosen, bei denen die lokale Deformität häufig über eine kurzstreckige Korrektur und Fusion komplett beseitigt werden kann. Dies sollte möglichst frühzeitig im Kleinkindesalter erfolgen, um ein physiologisches Wachstum der übrigen Wirbelsäule zu ermöglich (Abb. 1a–b).

Zugang: Korrekturen und Spondylodesen sollten im Kindesalter möglichst über einen dorsalen Zugang erfolgen. Thorakotomien können per se zu Wachstumsstörungen mit Skoliose führen und sollten vermieden werden. Lediglich cervikal und am lumbosakralen Übergang können zusätzliche ventrale Zugänge erforderlich werden.

Fusionslänge: Vor jeder Fusion bei EOS sollte die Auswirkung auf das weitere Wachstumsdefizit eingeschätzt werden. Die Daten von Dimeglio (Abb. 4) [9] auf einzelne Wirbel heruntergebrochen, ergeben je nach Lokalisation und Alter ein Höhenwachstum von 0,6–1,4 mm pro Wirbel und Jahr. Das zu erwartende Wachstumsdefizit bei Wachstumsabschluss kann daher in Abhängigkeit von der Anzahl der fusionierten Segmente, der Lokalisation und dem Alter bei Operation gut abgeschätzt werden.

Karol et al. konnten zeigen, dass die Anzahl der fusionierten Wirbelsäulensegmente eng mit einer Verringerung der Vitalkapazität korreliert. Um restriktive Lungenfunktionsstörungen im Erwachsenenalter zu vermeiden, sollte die Thoraxhöhe (Th1–Th12) 18 cm bei Wachstumsabschluss nicht unterschreiten [15].

Wuchslenkung

Um langstreckige Fusionen und damit Wachstumsdefizite zu vermeiden, werden insbesondere bei progredienten idiopathischen Skoliosen wuchslenkende Instrumentationen bevorzugt. Auch bei neuromuskulären und Syndrom assoziierten Skoliosen ist die wuchslenkende Versorgung eine Therapieoption. Es stehen dorsale und ventrale Wirbelsäulen- und rippenbasierte Verfahren zur Verfügung.

Cave: Bei jeder wuchslenkenden Instrumentation sollte allerdings beachtet werden, dass in den meisten Fällen nach Wachstumsabschluss eine Fusion der primär instrumentierten Segmente spontan eintritt oder sekundär operativ erfolgt. Um langfristig größtmögliche Mobilität der Wirbelsäule zu gewährleisten, ist es daher wichtig, bereits bei der primären wuchslenkenden Instrumentation die instrumentierte Strecke möglichst kurz zu halten!

Dorsal distrahierende Verfahren

Das Prinzip der dorsalen distrahierenden Verfahren besteht in einer kranialen und kaudalen Verankerung an der Wirbelsäule, die meist transpedikulär erfolgt. Diese sind über eine subfaszial eingeschobene distrahierende Instrumentation verbunden.

Es wurden verschiedene „mitwachsende“, nichtfusionierende Verfahren, die konventionelle Growing-rod-Technik (Abb. 2a), entwickelt. Das „Mitwachsen“ dieser Implantate muss über repetitive operative Distraktionen sichergestellt werden. Diese Distraktionsoperationen werden zumeist alle 6 Monate durchgeführt. Die repetitiven Eingriffe erhöhen die Komplikationsrate und können mit einer psychischen Belastung der Kinder assoziiert sein [1, 4, 12].

Bei „Magec growing rods“ (Abb. 2b, 3) handelt es sich um magnetisch verlängerbare Systeme, die ohne Eingriff von extern verlängert werden können. Diese zumeist alle 3 Monate durchgeführte Distraktion erfolgt ambulant ohne Narkose und erspart den Kindern wiederholte Verlängerungsoperationen [23], postoperative Schmerzen und stationäre Aufenthalte. Allerdings können Metallosen und erhöhte Ionenkonzentrationen auftreten [28]. Nach Wachstumsabschluss erfolgt meist die definitive Korrektur über die Länge der ursprünglichen Instrumentation [2].

Ein Rippen basiertes dorsal distrahierendes Verfahren stellt das VEPTR-Verfahren („vertical expandable prosthetic titanium rib) dar. Es wurde nicht primär für die Skoliosekorrektur entwickelt und ist insbesondere bei Thoraxinsuffizienz-Syndromen indiziert [5]. Allerdings führt das Verfahren zu einer zunehmenden Einsteifung des knöchernen Thorax mit reduzierter Atemexkursion. Es sollte daher nur bei primären Thoraxdeformitäten angewendet werden und ist bei Skoliosen ohne Rippendeformitäten/-synostosen kontraindiziert.

Dorsal lenkende Verfahren

Eine weitere nichtfusionierende operative Versorgung stellt das wuchslenkende Verfahren nach Shilla dar. Hierbei erfolgt die Korrektur mit Fusion am Apex über Pedikelschrauben. Die Stäbe werden am Apex fixiert, cranial und caudal werden Gleitschrauben eingebracht. Hierüber kann das Längenwachstum stattfinden, die eingebrachten Stäbe dienen zur Wachstumslenkung [18, 31]. Das Verfahren ist vor allem bei angulären Deformitäten sinnvoll, wenn am Apex osteotomiert und kurzstreckig fusioniert wird und eine begleitende großbogige Krümmung „gelenkt“ werden soll.

Ventral wuchslenkende Verfahren

Ventrale wuchslenkende Verfahren wie das „Vertebral Body Tethering“ oder Staples schränken das Wachstum ventral ein. Sie sind in ihrem Ergebnis schwer einzuschätzen und wirken kyphogen. Sie sollten daher in der Altersgruppe unter 10 Jahren nicht angewendet werden.

Fazit für die Praxis

Early Onset Skoliosen sind alle Skoliosen, die vor dem 10. Lebensjahr auftreten.

Sie sind ätiologisch unterschiedlich: kongenital, idiopathisch, neuromuskulär, Syndrom
assoziiert.

Die Therapie muss immer
individuell geplant werden. Sie orientiert sich an der Ätiologie, dem Ausmaß und Progress der Krümmung sowie dem Alter des Patienten.

Die Therapie und Verlaufskontrolle erstreckt sich über die gesamte Wachstumsphase des Patienten.

Konservative Verfahren haben
bei einigen Subtypen ihre
Berechtigung.

Bei den operativen Verfahren überwiegen wachstumslenkende Verfahren.

Interessenkonflikte:

Michael Ruf: Honorare für Vorträge von DePuy, Medtronic, Nuvasive, Stryker

Deborah Schray, Gregor Ostrowski:
keine angegeben

Tobias Pitzen: Honorare für Vorträge und Hospitantenbetreuung von BBraun, DePuy, Medtronic, Nuvasive

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Michael Ruf

SRH Klinikum
Karlsbad Langensteinbach

Guttmannstraße 1

76307 Karlsbad-Langensteinbach

michael.ruf@srh.de

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5