Übersichtsarbeiten - OUP 11/2015

Versorgungsstrategien von osteoporotischen proximalen Humerusfrakturen

Marc Schnetzke1, Paul-Alfred Grützner1, Thorsten Gühring1

Zusammenfassung: Winkelstabile Systeme haben die Behandlung und das klinische Outcome von osteoporotischen Frakturen in den letzten Jahren nachhaltig verbessert. Bei der operativen Versorgung von proximalen Humerusfrakturen stellen die hohen postoperativen Komplikationsraten weiterhin ein alltägliches Problem dar. Als häufige Komplikationen werden sekundäre Dislokationen, intraartikuläre Schraubenlagen, Humeruskopfnekrose und Rotatorenmanschetteninsuffizienz beschrieben. Die Verwendung moderner winkelstabiler Systeme mit der Möglichkeit der Zementaugmentation, die zusätzliche Fixierung der Rotatorenmanschette mittels Fadencerclagen und biomechanische Erkenntnisse helfen, die Komplikationsraten zu verringern und damit das klinische Ergebnis zu verbessern. Der vorliegende Artikel legt die aktuellen Therapiekonzepte bei der Versorgung der osteoporotischen proximalen Humerusfraktur dar, zeigt die Grenzen der Rekonstruierbarkeit auf und gibt einen kurzen Ausblick auf die Neuerungen bei der Versorgung osteoporotischer proximaler Humerusfrakturen.

Schlüsselwörter: Humeruskopffraktur; proximale Humerusfraktur, winkelstabile Platte, Humerusnagel, Frakturprothese,
inverse Schulterprothese, Osteoporose

Zitierweise
Schnetzke M, Grützner PA, Gühring T. Versorgungsstrategien von osteoporotischen proximalen Humerusfrakturen.
OUP 2015; 11: 555–562 DOI 10.3238/oup.2015.0555–0562

Summary: Locking systems have dramatically improved the treatment of osteoporotic fractures during the last decade. However, the clinical outcome of proximal humeral head fractures is still often accompanied by complications. Most common problems are secondary dislocation, screw perforation, avascular head necrosis and secondary insufficiency of the rotator cuff. The usage of modern locking systems with the ability of cement augmentation of the locking screws, the additional fixation of the rotator cuff with sutures and biomechanical knowledge can help to reduce the complication rates and can improve the clinical outcome. This article provides the current treatment options in the therapy of humeral head fractures in osteoporotic bone. Futhermore, the current developments are highlighted together with the limitations of the locking systems.

Keywords: humeral head fracture, proximal humeral fracture, locking plate, humeral nail, fracture prosthesis, reverse shoulder prosthesis, osteoporosis

Citation
Schnetzke M, Grützner PA, Gühring T. Current principles in the treatment of proximal humeral fractures in osteoporotic bone.
OUP 2015; 11: 555–562 DOI 10.3238/oup.2015.0555–0562

Einleitung

Proximale Humerusfrakturen machen etwa 5 % aller Frakturen aus. Frauen sind dabei doppelt so häufig betroffen wie Männer (w > m: 3:1), bei Frauen über 70 Jahren beträgt die Inzidenz über 400/100000 [1–3]. Das Lebenszeitrisiko für eine proximale Humerusfraktur beträgt bei Erreichen des 80. Lebensjahres etwa 5–8 % [4]. Das Vorliegen einer Osteoporose und eine Sturzneigung stellen dabei die Haupt-Risikofaktoren für das Auftreten einer proximalen Humerusfraktur dar [5].

Nach Literaturangaben werden etwa 21 % aller proximalen Humerusfrakturen operativ versorgt (inklusive isolierte Frakturen des Tuberculum majus) [4]. Osteoporotische Frakturen sind aufgrund der schlechteren Knochenqualität häufig mit einer metaphysären Trümmerzone, Mehrfragmentfrakturen und intra-artikulären Frakturen (sog. Head-Split-Fraktur) vergesellschaftet [6]. Bei Vorliegen dieser prognostisch ungünstigen Faktoren wird in der Regel eine operative Therapie empfohlen. Bei einer operationspflichtigen proximalen Humerusfraktur stellt die winkelstabile Plattenosteosynthese neben den intramedullären Verfahren aktuell den Goldstandard in der Versorgung dar, sofern eine sinnvolle Rekonstruktion möglich ist. Mit Hilfe der winkelstabilen Implantate kann insbesondere beim osteoporotischen Knochen eine bessere Primärstabilität zwischen dem Kopf- und Schaftfragment erzielt werden [7–9]. Bis heute liegt jedoch noch keine eindeutige Evidenz vor, dass die winkelstabilen Systeme hinsichtlich des funktionellen Ergebnisses der konservativen Therapie überlegen sind [10–13].

Klassifikation

Im klinischen Alltag sind im Wesentlichen 2 Klassifikationen von proximalen Humerusfrakturen gebräuchlich: die Neer-Klassifikation und die AO-Klassifikation. Die Neer-Klassifikation wird im klinischen Alltag am häufigsten verwendet [14].

Nicht dislozierte Frakturen werden als sogenannte 1-Part-Frakturen zusammengefasst, da sie als stabile Einheit betrachtet und daher konservativ behandelt werden können. Die Grenze zwischen gering dislozierten und dislozierten Frakturen liegt nach Neer bei einer Verschiebung von 1 cm beziehungsweise 45º vor.

Die dislozierten Frakturen werden in 2-, 3– und 4-Part-Frakturen unterschieden. Die vordere und hintere Luxationsfraktur sowie die Head-Split-Fraktur werden in der Neer-Klassifikation als eigene Entitäten betrachtet. Nachteile der Neer-Klassifikation sind, dass nicht alle Frakturmorphologien dargestellt werden und keine Prognose für das Auftreten einer Humeruskopfnekrose abgeleitet werden kann.

Hertel hat im Jahre 2004 erstmals prognostische Kriterien für die Entstehung einer Humeruskopfnekrose definiert, die sogenannten Hertel-Kriterien [15]. Die Hertel-Kriterien beinhalten die Dislokation des Kalkarsegments um mehr als 8 mm, das Vorhandensein einer metaphysären Trümmerzone und eine Fraktur im anatomischen Hals (Abb. 1).

Die AO-Klassifikation beinhaltet insgesamt 27 verschiedene Frakturmorphologien. Die AO-Klassifikation hat nur einen eingeschränkten prognostischen bzw. therapeutischen Wert und wird im klinischen Alltag daher nicht routinemäßig angewandt.

Behandlungsstrategien

Das Behandlungsspektrum bei der Versorgung osteoporotischer Frakturen am proximalen Humerus reicht von der konservativen Therapie stabiler, un- bzw. gering dislozierter Frakturen bis hin zum endoprothetischen Gelenkersatz bei Mehrfragmentfrakturen. Im Folgenden werden die Behandlungsprinzipien anhand von klinischen Beispielen mit dem Schwerpunkt auf den winkelstabilen Systemen vorgestellt.

Konservative Therapie

Nicht oder nur gering dislozierte Frakturen des proximalen Humerus können konservativ behandelt werden [1]. Bei diesen Frakturen sind die Rotatorenmanschette sowie die Gelenkkapsel intakt und sorgen für eine stabile Fraktursituation. Die Stabilität kann zusätzlich unter der dynamischen Durchleuchtung geprüft werden.

Auch die valgisch impaktierte Fraktur stellt eine gute Indikation für eine konservative Therapie dar. Bei den gering dislozierten Frakturen kann die Entscheidung im Gespräch mit dem Patienten individuell getroffen werden. Bei älteren Patienten stellen die Grenzwerte von Neer (Verschiebung < 1 cm oder Dislokation um < 45°) eine gute Orientierung zur Entscheidungsfindung dar.

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