Übersichtsarbeiten - OUP 11/2015

Versorgungsstrategien von osteoporotischen proximalen Humerusfrakturen

Marc Schnetzke1, Paul-Alfred Grützner1, Thorsten Gühring1

Zusammenfassung: Winkelstabile Systeme haben die Behandlung und das klinische Outcome von osteoporotischen Frakturen in den letzten Jahren nachhaltig verbessert. Bei der operativen Versorgung von proximalen Humerusfrakturen stellen die hohen postoperativen Komplikationsraten weiterhin ein alltägliches Problem dar. Als häufige Komplikationen werden sekundäre Dislokationen, intraartikuläre Schraubenlagen, Humeruskopfnekrose und Rotatorenmanschetteninsuffizienz beschrieben. Die Verwendung moderner winkelstabiler Systeme mit der Möglichkeit der Zementaugmentation, die zusätzliche Fixierung der Rotatorenmanschette mittels Fadencerclagen und biomechanische Erkenntnisse helfen, die Komplikationsraten zu verringern und damit das klinische Ergebnis zu verbessern. Der vorliegende Artikel legt die aktuellen Therapiekonzepte bei der Versorgung der osteoporotischen proximalen Humerusfraktur dar, zeigt die Grenzen der Rekonstruierbarkeit auf und gibt einen kurzen Ausblick auf die Neuerungen bei der Versorgung osteoporotischer proximaler Humerusfrakturen.

Schlüsselwörter: Humeruskopffraktur; proximale Humerusfraktur, winkelstabile Platte, Humerusnagel, Frakturprothese,
inverse Schulterprothese, Osteoporose

Zitierweise
Schnetzke M, Grützner PA, Gühring T. Versorgungsstrategien von osteoporotischen proximalen Humerusfrakturen.
OUP 2015; 11: 555–562 DOI 10.3238/oup.2015.0555–0562

Summary: Locking systems have dramatically improved the treatment of osteoporotic fractures during the last decade. However, the clinical outcome of proximal humeral head fractures is still often accompanied by complications. Most common problems are secondary dislocation, screw perforation, avascular head necrosis and secondary insufficiency of the rotator cuff. The usage of modern locking systems with the ability of cement augmentation of the locking screws, the additional fixation of the rotator cuff with sutures and biomechanical knowledge can help to reduce the complication rates and can improve the clinical outcome. This article provides the current treatment options in the therapy of humeral head fractures in osteoporotic bone. Futhermore, the current developments are highlighted together with the limitations of the locking systems.

Keywords: humeral head fracture, proximal humeral fracture, locking plate, humeral nail, fracture prosthesis, reverse shoulder prosthesis, osteoporosis

Citation
Schnetzke M, Grützner PA, Gühring T. Current principles in the treatment of proximal humeral fractures in osteoporotic bone.
OUP 2015; 11: 555–562 DOI 10.3238/oup.2015.0555–0562

Einleitung

Proximale Humerusfrakturen machen etwa 5 % aller Frakturen aus. Frauen sind dabei doppelt so häufig betroffen wie Männer (w > m: 3:1), bei Frauen über 70 Jahren beträgt die Inzidenz über 400/100000 [1–3]. Das Lebenszeitrisiko für eine proximale Humerusfraktur beträgt bei Erreichen des 80. Lebensjahres etwa 5–8 % [4]. Das Vorliegen einer Osteoporose und eine Sturzneigung stellen dabei die Haupt-Risikofaktoren für das Auftreten einer proximalen Humerusfraktur dar [5].

Nach Literaturangaben werden etwa 21 % aller proximalen Humerusfrakturen operativ versorgt (inklusive isolierte Frakturen des Tuberculum majus) [4]. Osteoporotische Frakturen sind aufgrund der schlechteren Knochenqualität häufig mit einer metaphysären Trümmerzone, Mehrfragmentfrakturen und intra-artikulären Frakturen (sog. Head-Split-Fraktur) vergesellschaftet [6]. Bei Vorliegen dieser prognostisch ungünstigen Faktoren wird in der Regel eine operative Therapie empfohlen. Bei einer operationspflichtigen proximalen Humerusfraktur stellt die winkelstabile Plattenosteosynthese neben den intramedullären Verfahren aktuell den Goldstandard in der Versorgung dar, sofern eine sinnvolle Rekonstruktion möglich ist. Mit Hilfe der winkelstabilen Implantate kann insbesondere beim osteoporotischen Knochen eine bessere Primärstabilität zwischen dem Kopf- und Schaftfragment erzielt werden [7–9]. Bis heute liegt jedoch noch keine eindeutige Evidenz vor, dass die winkelstabilen Systeme hinsichtlich des funktionellen Ergebnisses der konservativen Therapie überlegen sind [10–13].

Klassifikation

Im klinischen Alltag sind im Wesentlichen 2 Klassifikationen von proximalen Humerusfrakturen gebräuchlich: die Neer-Klassifikation und die AO-Klassifikation. Die Neer-Klassifikation wird im klinischen Alltag am häufigsten verwendet [14].

Nicht dislozierte Frakturen werden als sogenannte 1-Part-Frakturen zusammengefasst, da sie als stabile Einheit betrachtet und daher konservativ behandelt werden können. Die Grenze zwischen gering dislozierten und dislozierten Frakturen liegt nach Neer bei einer Verschiebung von 1 cm beziehungsweise 45º vor.

Die dislozierten Frakturen werden in 2-, 3– und 4-Part-Frakturen unterschieden. Die vordere und hintere Luxationsfraktur sowie die Head-Split-Fraktur werden in der Neer-Klassifikation als eigene Entitäten betrachtet. Nachteile der Neer-Klassifikation sind, dass nicht alle Frakturmorphologien dargestellt werden und keine Prognose für das Auftreten einer Humeruskopfnekrose abgeleitet werden kann.

Hertel hat im Jahre 2004 erstmals prognostische Kriterien für die Entstehung einer Humeruskopfnekrose definiert, die sogenannten Hertel-Kriterien [15]. Die Hertel-Kriterien beinhalten die Dislokation des Kalkarsegments um mehr als 8 mm, das Vorhandensein einer metaphysären Trümmerzone und eine Fraktur im anatomischen Hals (Abb. 1).

Die AO-Klassifikation beinhaltet insgesamt 27 verschiedene Frakturmorphologien. Die AO-Klassifikation hat nur einen eingeschränkten prognostischen bzw. therapeutischen Wert und wird im klinischen Alltag daher nicht routinemäßig angewandt.

Behandlungsstrategien

Das Behandlungsspektrum bei der Versorgung osteoporotischer Frakturen am proximalen Humerus reicht von der konservativen Therapie stabiler, un- bzw. gering dislozierter Frakturen bis hin zum endoprothetischen Gelenkersatz bei Mehrfragmentfrakturen. Im Folgenden werden die Behandlungsprinzipien anhand von klinischen Beispielen mit dem Schwerpunkt auf den winkelstabilen Systemen vorgestellt.

Konservative Therapie

Nicht oder nur gering dislozierte Frakturen des proximalen Humerus können konservativ behandelt werden [1]. Bei diesen Frakturen sind die Rotatorenmanschette sowie die Gelenkkapsel intakt und sorgen für eine stabile Fraktursituation. Die Stabilität kann zusätzlich unter der dynamischen Durchleuchtung geprüft werden.

Auch die valgisch impaktierte Fraktur stellt eine gute Indikation für eine konservative Therapie dar. Bei den gering dislozierten Frakturen kann die Entscheidung im Gespräch mit dem Patienten individuell getroffen werden. Bei älteren Patienten stellen die Grenzwerte von Neer (Verschiebung < 1 cm oder Dislokation um < 45°) eine gute Orientierung zur Entscheidungsfindung dar.

Bei nicht oder nur gering dislozierten Frakturen am proximalen Humerus kann mit konservativer Therapie ein gutes funktionelles Ergebnis erzielt werden. Die Schulterbeweglichkeit kann nach Literaturangaben etwa 85 % im Vergleich zur gesunden Schulter erreichen [16]. Zu den häufigsten Komplikationen nach konservativer Therapie zählen vor allem eine Bewegungseinschränkung sowie das subakromiales Impingement durch ein disloziertes und durch den Zug der Supraspinatussehne kranialisiertes Tuberculum majus Fragment (Abb. 2).

In einer prospektiven, randomisierten Studie wurden 38 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 74 Jahren mit dislozierten 3- oder 4-Part-Frakturen konservativ oder operativ mittels Plattenosteosynthese behandelt [17]. Die radiologischen Ergebnisse waren in der operativen Gruppe besser, die funktionellen Ergebnisse zeigten zwischen beiden Gruppen jedoch keinen signifikanten Unterschied. Eine weitere Studie fand sogar schlechtere Ergebnisse in der operativen Gruppe bei dislozierten proximalen Humerusfrakturen Typ 11B und 11C [18].

Operative Therapie

Das Ziel der operativen Therapie von proximalen Humerusfrakturen ist eine anatomische Reposition und stabile Fixierung der Fraktur. Indikationen für eine operative Behandlung beim älteren Patienten stellen metaphysäre Trümmerzonen, Luxationsfrakturen, offene Frakturen, Frakturen mit Gelenkbeteiligung (sog. Head-Split-Frakturen) und Frakturen im Bereich des Collum anatomicum sowie Gefäß- und Nervenverletzungen dar. In der Literatur werden viele verschiedene operative Verfahren und Techniken beschrieben. Prinzipiell kann dabei zwischen kopferhaltenden und kopfersetzenden Verfahren unterscheiden werden.

Offene Reposition und winkelstabile Plattenosteosynthese

Die häufigsten Indikationen für die offene Reposition und winkelstabile Plattenosteosteosynthese stellen 2-, 3- und 4-Part-Frakturen (Abb. 3) mit Dislokation der Tuberkula und/oder des Humeruskopfs dar. Der deltoideo-pektorale Zugang bietet im Vergleich zum Delta-Split-Zugang eine bessere Übersicht und damit eine einfachere Möglichkeit zur Reposition der Fraktur. Beim Delta-Split Zugang besteht zudem eine höhere Gefahr für eine iatrogene Verletzung des Nervus axillaris. Nach Literaturangaben gibt es jedoch keinen Unterschied in den klinischen, radiologischen und elektrophysiologischen Ergebnissen zwischen dem deltoideo-pektoralen und dem Delta-Split-Zugang [19].

Die Analyse der Frakturmorphologie ist für die Operationsstrategie von zentraler Bedeutung. Zuerst sollte die vorhandene Varus- oder Valgus-Achsabweichung des Humeruskopfs korrigiert werden. Liegt zusätzlich eine Verschiebung ad latus und eine Torsionsabweichungen vor, sollte diese ebenfalls korrigiert werden. Bei 3- und 4-Part-Frakturen ist es hilfreich, das Intervall zwischen Tuberculum majus und Tuberculum minus zusammen mit dem Rotatorenmanschettenintervall zu eröffnen, um eine Impaktion des Kopfs besser adressieren zu können. Eine temporäre Kirschner-Draht-Transfixation des Kopfs an den Schaft kann die so erzielte Reposition kurzfristig sichern. Im osteoporotischen Knochen ist die temporäre Kirschner-Draht-Transfixierung aufgrund der schlechten Knochenqualität jedoch häufig nicht möglich. Alternativ kann die Rotatorenmanschette daher mit Fäden angeschlungen werden und die Fraktur darüber indirekt reponiert werden. Anatomische winkelstabile Platten bieten dann die Möglichkeit einer stabilen Fixierung des Kopfs an den Schaft. Die winkelstabilen Kopfschrauben sollten möglichst subchondral platziert werden, da in dieser Region die beste Knochenqualität vorliegt. Die Tuberkula können nach Reposition über die Fadencerclagen zusätzlich an die Platte fixiert werden [20].

Nach Literaturangaben ist die operative Versorgung von proximalen Humerusfrakturen trotz moderner winkelstabiler Osteosyntheseverfahren sehr komplikationsträchtig. In einer kürzlich veröffentlichten prospektiven Multicenter-Studie wurden gute klinische Ergebnisse ein Jahr postoperativ berichtet (Constant-Score: 70,6 Punkte, DASH-Score 15,2 Punkte). Gleichzeitig traten bei 34 % der Patienten Komplikationen innerhalb des ersten Jahres nach Operation auf [10]. Bemerkenswert ist dabei, dass 40 % der Komplikationen bereits am Ende des operativen Eingriffs ersichtlich waren. Die häufigste Komplikation war dabei die intraartikuläre Schraubenlage (14 %). Fast 20 % der Patienten wurden innerhalb des ersten Jahres operativ revidiert.

In einer Meta-Analyse der mittel- und langfristigen Ergebnisse nach winkelstabiler Plattenosteosynthese wiesen 4-Part-Frakturen im Vergleich zu 2-Part-Frakturen ein signifikant schlechteres Ergebnis auf (Constant Score 67,7 gegenüber 77,4 Punkte) [21]. Komplikationsrate von operativ versorgten proximalen Humerusfrakturen betrug laut der Meta-Analyse 48,8 %, die Revisionsrate lag bei 13,8 %. Die häufigsten Komplikationen waren hierbei eine sekundäre Varusachsabweichungen (16,3 %), das Aufteten einer Humeruskopfnekrose (10,8 %) (Abb. 4), eine intraartikuläre Schraubenlage (7,5 %), ein subakromiales Impingement (4,8 %) und Infektionen (3,5 %). In dieser Meta-Analyse stellte die intraartikuläre Schraubenlage den häufigsten Grund für eine operative Revision dar.

Die häufig nur mittelmäßigen funktionellen Ergebnisse der operativen Therapie des älteren Patienten haben zu einer kontroversen Diskussion in der jüngeren Vergangenheit geführt. Hintergrund der Diskussion ist, ob die Osteosynthese beim älteren Patienten tatsächlich einen Vorteil gegenüber der konservativen Therapie bietet. Mehrere randomisierte, kontrollierte Studien konnten keinen Nachweis einer Überlegenheit der operativen Therapie gegenüber der konservativen Behandlung erbringen.

Sanders et al. haben in einer Matched-pairs-Analyse von 18 Patienten, die mittels winkelstabiler Plattenosteosynthese versorgt wurden, und 18 konservativ behandelten Patienten bessere klinische Ergebnisse und eine niedrigere Komplikationsrate in der konservativen Gruppe gefunden [22]. Eine anatomische Reposition der Fraktur ist nach Literaturangaben der einzige prognostische Faktor, der mit einem besseren funktionellen Ergebnis assoziiert ist.

Die Bedeutung der Kalkarschrauben

Osteoporotische Frakturen am proximalen Humerus sind häufig vergesellschaftet mit einer metaphysären Trümmerzone im Bereich des medialen Kalkars [23]. Eine metaphysäre Abstützung am Kalkar mittels der sog. Kalkarschrauben scheint in der Versorgung von proximalen Humerusfrakturen insbesondere bei osteoporotischen Frakturen sinnvoll zu sein (Abb. 5). Die Platzierung von winkelstabilen Schrauben im unteren Anteil des Humeruskopfs kann einer sekundären Varusabweichung des Kopfs entgegenwirken und so das Risiko einer sekundären Dislokation reduzieren [24, 13].

Bislang liegen nur wenige biomechanische Untersuchungen vor, die den abstützenden Effekt der Kalkarschrauben belegen konnten. Katthagen et al. fanden keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Stabilität in Abduktion und bei Torsion mit und ohne Kalkarschrauben im Kadaverversuch [25]. Erst nach Einsetzen eines kortikospongiösen Knochenblocks im Bereich des Kalkars war die Bruchlast mit den Kalkarschrauben unter axialer Belastung und Adduktion signifikant erhöht. Bai et al. konnten eine signifikante Zunahme der Axial- und Schersteifigkeit nach Einbringen von 2 Kalkarschrauben in einem simulierten Frakturmodel nachweisen [26]. Der stabilisierende Effekt der Kalkarschrauben war jedoch nur bei bei Vorhandensein einer metaphysären Trümmerzone und bei varisch impaktierten Frakturen messbar.

Im Gegensatz zu den inkonsistenten biomechanischen Daten weisen alle verfügbaren klinischen Studien einen positiven Einfluss der Kalkarschrauben nach. Gardner et al. veröffentlichten die erste klinische Studie über die Verwendung von zusätzlichen Kalkarschrauben und konnten dabei eine signifikante Reduktion von sekundären Dislokationen nachweisen [24]. Zhang et al. haben diese ersten Ergebnisse in einer prospektiven randomisierten Studie bestätigt. 72 Patienten (mittleres Alter 63,2 Jahre) wurden zur Hälfte mit und zur anderen Hälfte ohne Kalkarschrauben versorgt [27]. Die Patienten mit medialer Unterstützung haben signifikant bessere funktionelle Ergebnisse erzielen können. Gleichzeitig war die Rate an sekundären Dislokationen mit Verwendung der Kalkarschrauben signifikant niedriger (23,1 % vs. 3,4 %, p = 0,036). Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass die winkelstabil eingebrachten Kalkarschrauben insbesondere bei proximalen Humerusfrakturen mit metaphysärer Trümmerzone die Primärstabilität erhöhen. Zusätzlich tragen die Kalkarschrauben dazu bei, die intraoperative Reposition zu halten, was sich in einer verringerten Anzahl an sekundären Dislokationen wiederspiegelt.

Die Bedeutung der Zementaugmentation

Die Zementaugmentation wird seit längerer Zeit erfolgreich bei der Versorgung von proximalen Femurfrakturen eingesetzt. Biomechanische Untersuchungen konnten auch am proximalen Humerus nachweisen, dass mit Hilfe der Zementaugmentation die Primärstabilität insbesondere bei osteoporotischen Frakturen verbessert werden kann [28]. Klinische Daten sind aktuell noch nicht veröffentlicht. Aktuell wird eine europaweit angelegte prospektive, randomisierte Multicenterstudie durchgeführt, die den Nachweis einer Überlegenheit der Zementaugmantation bei der Versorgung von osteoporotischen proximalen Humerusfrakturen zeigen soll.

Geschlossene Reposition und
Nagelosteosynthese

Nagelosteosynthesen versuchen die hohe Stabilität rigider Implantate mit der guten Weichteilschonung minimalinvasiver Verfahren zu vereinigen. Indikationen für die Nagelung bestehen bei ausgeprägter metaphysärer Trümmerzone oder Spiralfrakturen, die in den Humerusschaft übergehen. Jüngere Studien, die unterschiedliche moderne winkelstabile winkelstabile Platten mit Humerusnägeln verglichen haben, konnten keine Unterschiede im funktionellen Ergebnis feststellen [30].

Prothetischer Gelenkersatz

Trotz moderner winkelstabiler Platten- und Nagelsysteme können nicht alle proximalen Humerusfrakturen anatomisch rekonstruiert werden. Bei 3- und 4-Part-Frakturen des proximalen Humerus besteht nach aktueller Studienlage bei Head-Split-Frakturen, fortgeschrittener Osteoporose oder nach fehlgeschlagener Osteosynthese die Indikation zum endoprothetischen Gelenkersatz. Grundsätzlich kann hierbei zwischen einer anatomischen Frakturprothese (in der Regel als Hemiprothese) und einer inversen Prothese unterschieden werden.

Anatomische Frakturprothese

Um ein zufriedenstellendes Ergebnis nach Versorgung einer proximalen Humerusfraktur mit einer anatomischen Frakturprothese zu erzielen, sind die regelrechte Einheilung der Tuberkula, die Wiederherstellung der korrekten Höhe des Humeruskopfs sowie die Rekonstruktion des Offsets und der Retroversion von zentraler Bedeutung (Abb. 6) [16].

Das Design der Frakturprothesen wurde in den vergangenen Jahren konsequent weiterentwickelt, um diesen Forderungen gerecht zu werden. Trotz Verbesserungen im Prothesendesign besteht jedoch nach Angaben in der Literatur eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem subjektiven und dem tatsächlichen funktionellen Ergebnis nach Implantation einer anatomischen Frakturprothese – die erzielten subjektiven Ergebnisse sind meist deutlich besser als die objektive Schulterfunktion [31, 32].

In einer retrospektiven multizentrischen Studie mit einem Follow-up von mindestens einem Jahr gaben 79 % der Patienten keine oder nur geringe Beschwerden an. Im Gegensatz dazu waren nur 34,7 % der Patienten dazu in Lage, den betroffenen Arm bis zur Horizontalen zu abduzieren [32].

Die Ergebnisse einer randomisierten, kontrollierten Studie zeigten einen signifikanten Vorteil in der Lebensqualität für die anatomische Frakturprothese im Vergleich zur konservativen Behandlung bei älteren Patienten mit 4-Part-Frakturen [33]. Der Hauptvorteil lag vor allem in der Schmerzreduktion. Die erzielte Beweglichkeit war in beiden Gruppen gleich. Eine retrospektive Kohortenstudie verglich die offene Reposition und winkelstabile Plattenosteosynthese mit der Hemi-Frakturprothese bei 3- und 4-Part-Frakturen [34]. Dabei konnte mit der Frakturprothese ein besseres klinisches Ergebnis (Constant-Score 74,6 gegenüber 63,8 Punkte) trotz einer insgesamt höheren Komplikationsrate erzielt werden.

Die häufigsten Komplikationen bei der Frakturendoprothetik sind intraoperativ iatrogene periprothetische Frakturen (5 %) und Verletzungen des N. axillaris (5 %). Häufige Frühkomplikationen stellen die sekundäre Dislokation der Tuberkula (23 %), die Entstehung einer Arthrofibrose (5 %), Instabilität (15 %) und Infektion (6 %) dar. Als häufigste Spätkomplikationen kommt es zu einer Resorption der Tuberkula (7 %, Abb. 7) oder einer sekundären Rotatorenmanschetteninsuffizienz (23 %), sehr häufig wird eine sekundäre Glenoidarthrose beobachtet (35 %) [35]. Zur Vermeidung der Spätkomplikationen ist eine Refixation der Tuberkula im Rahmen der Primärversorgung erforderlich. Die kombinierte Refixation der Tuberkula mittels Faden- und Drahtcerclagen weist dabei bessere radiologische und funktionelle Ergebnisse auf als die isolierte Fadencerclage [36].

Inverse Prothese

Bei der Mehrzahl der älteren Patienten liegt unabhängig von der proximalen Humerusfraktur eine degenerative Veränderung der Rotatorenmanschette vor. Nach epidemiologischen Untersuchungen mittels Sonografie und Kernspintomografie kann man heute davon ausgehen, dass Patienten ab dem 60. Lebensjahr zu 28 %, ab dem 70. Lebensjahr zu 50 % und ab dem 80. Lebensjahr zu 80 % einen vollschichtigen Rotatorenmanschettenschaden aufweisen [37]. Patienten mit vorbestehenden degenerativen Läsionen der Rotatorenmanschette können mit einer Frakturprothese aufgrund der fast immer eintretenden sekundären Rotatorenmanschetteninsuffizienz mit Höhertreten der Prothese kein gutes funktionelles Ergebnis erzielen. Die inverse Schulterprothese kann durch das spezielle Design mit Lateralisierung des Drehzentrums auch bei vorbestehendem Rotatorenmanschettenschaden in der Fraktursituation sinnvoll eingesetzt werden. Voraussetzung für ein gutes klinisches Ergebnis mit inverser Schulterprothese ist eine volle Funktionsfähigkeit des Nervus axillaris.

Der Trend der letzten Jahre geht immer mehr dazu über, bei Patienten ab dem 65. Lebensjahr in der Fraktursituation eine inverse Prothese zu implantieren, sofern eine Rekonstruktion der Fraktur nicht möglich ist. Die Datenlage zu Ergebnissen nach inverser Schulterprothese bei proximalen Humerusfrakturen ist bislang relativ gering. Im kurz- und mittelfristigen Follow-up scheint die inverse Prothese bei Patienten über 60 Jahre funktionell den anatomischen Prothesen überlegen zu sein bei vergleichbarer Komplikationsrate (Abb 8) [38].

Interessenkonflikt: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Dr. med. Marc Schnetzke

BG Klinik Ludwigshafen, Abteilung für Unfallchirurgie und Orthopädie

Ludwig-Guttmann-Str. 13

67071 Ludwigshafen

Marc.Schnetzke@bgu-ludwigshafen.de

Literatur

1. Court-Brown CM, Garg A, McQueen MM. The epidemiology of proximal humeral fractures. Acta orthopaedica Scandinavica. 2001; 72: 365–71

2. Pentek M, Horvath C, Boncz I et al. Epidemiology of osteoporosis related fractures in Hungary from the nationwide health insurance database, 1999–2003. Osteoporosis international: a journal established as result of cooperation between the European Foundation for Osteoporosis and the National Osteoporosis Foundation of the USA. 2008; 19: 243–9

3. Kim SH, Szabo RM, Marder RA. Epidemiology of humerus fractures in the United States: nationwide emergency department sample, 2008. Arthritis care & research. 2012; 64: 407–14

4. Roux A, Decroocq L, El Batti S et al. Epidemiology of proximal humerus fractures managed in a trauma center. Orthopaedics & traumatology, surgery & research : OTSR. 2012; 98: 715–9

5. Lauritzen JB, Schwarz P, Lund B, McNair P, Transbol I. Changing incidence and residual lifetime risk of common osteoporosis-related fractures. Osteoporosis international: a journal established as result of cooperation between the European Foundation for Osteoporosis and the National Osteoporosis Foundation of the USA. 1993; 3: 127–32

6. Launonen AP, Lepola V, Saranko A, Flinkkila T, Laitinen M, Mattila VM. Epidemiology of proximal humerus fractures. Archives of osteoporosis. 2015; 10: 209

7. Resch H, Beck E, Bayley I. Reconstruction of the valgus-impacted humeral head fracture. Journal of shoulder and elbow surgery 1995; 4: 73–80

8. Bogner R, Hubner C, Matis N, Auffarth A, Lederer S, Resch H. Minimally-invasive treatment of three- and four-part fractures of the proximal humerus in elderly patients. The Journal of bone and joint surgery British volume. 2008; 90: 1602–7

9. Spross C, Platz A, Erschbamer M, Lattmann T, Dietrich M. Surgical treatment of Neer Group VI proximal humeral fractures: retrospective comparison of PHILOS(R) and hemiarthroplasty. Clinical orthopaedics and related research. 2012; 470: 2035–42

10. Sudkamp N, Bayer J, Hepp P et al. Open reduction and internal fixation of proximal humeral fractures with use of the locking proximal humerus plate. Results of a prospective, multicenter, observational study. The Journal of bone and joint surgery American volume. 2009; 91: 1320–8

11. Owsley KC, Gorczyca JT. Fracture displacement and screw cutout after open reduction and locked plate fixation of proximal humeral fractures [corrected]. The Journal of bone and joint surgery American volume. 2008; 90: 233–40

12. Jost B, Spross C, Grehn H, Gerber C. Locking plate fixation of fractures of the proximal humerus: analysis of complications, revision strategies and outcome. Journal of shoulder and elbow surgery 2013; 22: 542–9

13. Krappinger D, Bizzotto N, Riedmann S, Kammerlander C, Hengg C, Kralinger FS. Predicting failure after surgical fixation of proximal humerus fractures. Injury. 2011; 42: 1283–8

14. Neer CS, 2nd. Displaced proximal humeral fractures. I. Classification and evaluation. The Journal of bone and joint surgery American volume. 1970; 52: 1077–89

15. Hertel R, Hempfing A, Stiehler M, Leunig M. Predictors of humeral head ischemia after intracapsular fracture of the proximal humerus. Journal of shoulder and elbow surgery 2004; 13: 427–33

16. Burkhart KJ, Dietz SO, Bastian L, Thelen U, Hoffmann R, Muller LP. The treatment of proximal humeral fracture in adults. Deutsches Arzteblatt international. 2013; 110: 591–7

17. Zyto K, Ahrengart L, Sperber A, Tornkvist H. Treatment of displaced proximal humeral fractures in elderly patients. The Journal of bone and joint surgery British volume 1997; 79: 412–7

18. Fjalestad T, Stromsoe K, Blucher J, Tennoe B. Fractures in the proximal humerus: functional outcome and evaluation of 70 patients treated in hospital. Archives of orthopaedic and trauma surgery. 2005; 125: 310–6

19. Buecking B, Mohr J, Bockmann B, Zettl R, Ruchholtz S. Deltoid-split or deltopectoral approaches for the treatment of displaced proximal humeral fractures? Clinical orthopaedics and related research. 2014; 472: 1576–85

20. Ring D. Current concepts in plate and screw fixation of osteoporotic proximal humerus fractures. Injury. 2007; 38 Suppl 3: S59–68

21. Sproul RC, Iyengar JJ, Devcic Z, Feeley BT. A systematic review of locking plate fixation of proximal humerus fractures. Injury. 2011; 42: 408–13

22. Sanders RJ, Thissen LG, Teepen JC, van Kampen A, Jaarsma RL. Locking plate versus nonsurgical treatment for proximal humeral fractures: better midterm outcome with nonsurgical treatment. Journal of shoulder and elbow surgery 2011; 20: 1118–24

23. Krappinger D, Roth T, Gschwentner et al. Preoperative assessment of the cancellous bone mineral density of the proximal humerus using CT data. Skeletal radiology. 2012; 41: 299–304

24. Gardner MJ, Weil Y, Barker JU, Kelly BT, Helfet DL, Lorich DG. The importance of medial support in locked plating of proximal humerus fractures. Journal of orthopaedic trauma. 2007; 21: 185–91

25. Katthagen JC, Schwarze M, Meyer-Kobbe J, Voigt C, Hurschler C, Lill H. Biomechanical effects of calcar screws and bone block augmentation on medial support in locked plating of proximal humeral fractures. Clinical biomechanics 2014; 29: 735–41

26. Bai L, Fu Z, An S, Zhang P, Zhang D, Jiang B. Effect of Calcar Screw Use in Surgical Neck Fractures of the Proximal Humerus With Unstable Medial Support: A Biomechanical Study. Journal of orthopaedic trauma. 2014; 28: 452–7

27. Zhang L, Zheng J, Wang W, Lin G, Huang Y, Zheng J et al. The clinical benefit of medial support screws in locking plating of proximal humerus fractures: a prospective randomized study. International orthopaedics. 2011; 35: 1655–61

28. Wahnert D, Lange JH, Schulze M, Lenschow S, Stange R, Raschke MJ. The potential of implant augmentation in the treatment of osteoporotic distal femur fractures: a biomechanical study. Injury. 2013; 44: 808–12

29. Schliemann B, Wahnert D, Theisen C, Herbort M, Kosters C, Raschke MJ et al. How to enhance the stability of locking plate fixation of proximal humerus fractures? An overview of current biomechanical and clinical data. Injury. 2015; 46: 1207–14

30. Gradl G, Dietze A, Kaab M, Hopfenmuller W, Mittlmeier T. Is locking nailing of humeral head fractures superior to locking plate fixation? Clinical orthopaedics and related research. 2009; 467: 2986–93

31. Besch L, Daniels-Wredenhagen M, Mueller M, Varoga D, Hilgert RE, Seekamp A. Hemiarthroplasty of the shoulder after four-part fracture of the humeral head: a long-term analysis of 34 cases. The Journal of trauma. 2009; 66: 211–4

32. Kralinger F, Schwaiger R, Wambacher M et al. Outcome after primary hemiarthroplasty for fracture of the head of the humerus. A retrospective multicentre study of 167 patients. The Journal of bone and joint surgery British volume. 2004; 86: 217–9

33. Olerud P, Ahrengart L, Ponzer S, Saving J, Tidermark J. Hemiarthroplasty versus nonoperative treatment of displaced 4-part proximal humeral fractures in elderly patients: a randomized controlled trial. Journal of shoulder and elbow surgery 2011; 20: 1025–33

34. Solberg BD, Moon CN, Franco DP, Paiement GD. Surgical treatment of three and four-part proximal humeral fractures. The Journal of bone and joint surgery American volume. 2009; 91: 1689–97

35. Plausinis D, Kwon YW, Zuckerman JD. Complications of humeral head replacement for proximal humeral fractures. Instructional course lectures. 2005; 54: 371–80

36. Krause FG, Huebschle L, Hertel R. Reattachment of the tuberosities with cable wires and bone graft in hemiarthroplasties done for proximal humeral fractures with cable wire and bone graft: 58 patients with a 22-month minimum follow-up. Journal of orthopaedic trauma. 2007; 21: 682–6

37. Milgrom C, Schaffler M, Gilbert S, van Holsbeeck M. Rotator-cuff changes in asymptomatic adults. The effect of age, hand dominance and gender. The Journal of bone and joint surgery British volume. 1995; 77: 296–8

38. Mata-Fink A, Meinke M, Jones C, Kim B, Bell JE. Reverse shoulder arthroplasty for treatment of proximal humeral fractures in older adults: a systematic review. Journal of shoulder and elbow 2013; 22: 1737–48

Fussnoten

1 BG Klinik Ludwigshafen, Abteilung für Unfallchirurgie und Orthopädie

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5