Originalarbeiten - OUP 03/2012

Das FIT™ -Konzept (Funktionelle Interdisziplinäre Therapie)
als perioperatives Management nach alloplastischem Gelenkersatz
The FIT-Concept (functional interdisciplinary therapy) – postoperative management after alloplastic j

J. Jerosch1, J. Heisel2

Zusammenfassung: In der letzten Dekade hat sich das perioperative Management bei einer Vielzahl von Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen deutlich verändert: Dieses beginnt bei der präoperativen Vorbereitung. Viele Patienten haben sich bereits im Vorfeld über den Eingriff selbst sowie über die notwendige Nachbehandlung informiert; dennoch können standardisierte Patientenschulungen das klinische Ergebnis verbessern und den Klinikablauf optimieren. Im Bereich der perioperativen Schmerztherapie sollte der Operateur nicht alleine auf den anästhesiologischen Partner zurückgreifen, sondern bereits intraoperativ die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wahrnehmen. Der postoperative Belastungsaufbau ist deutlich progressiver als früher. Nach primärer Implantation einer Hüft- oder Knie-TEP spricht beispielsweise nichts gegen eine frühe schmerzadaptierte Vollbelastung, sofern keine individuellen patientenspezifischen Besonderheiten vorliegen.

Auch die Sportfähigkeit wird heutzutage positiver bewertet. In der Regel kann der Patient die meisten Sportarten wieder ausüben, sofern er diese auch vorher vom Bewegungsablauf beherrschte; dies gilt z.B. auch für das Skifahren.

Schlüsselwörter: perioperatives Management, Schmerztherapie, Belastungsaufbau, Sportfähigkeit, FIT-Konzept

Abstract: During the last decade there have been significant changes in the postoperative management. This process begins in the preoperative phase: Many patients are much better informed; standardized preoperative programs may improve patients outcome and optimize the clinical pathways. Concerning the techniques of perioperative pain management, the surgeon should not only rely on the anaesthesiologist, he should also use the options, he has during surgery. Nowadays, postoperative weight bearing is handled in a much more progressive way: In standard THR and TKR pain adopted full weight bearing is allowed, if there are no patient specific problems.

There is also a shift in the postoperative capability of performing athletic and recreational activities. In general, the patient may perform all activities, he used to do before surgery. This also includes downhill skiing.

Keywords: perioperative management, pain treatment, weight bearing, athletic activities, FIT-concept

Einleitende Vorbemerkungen

In den letzten 10 Jahren haben sich unsere Behandlungsstrategien im Bereich der elektiven Hüft- und Knieendoprothetik erheblich gewandelt. Viele der Veränderungen werden hier den minimal-invasiven Zugängen zugeschrieben. In diesem Zusammenhang wird jedoch in der Regel nicht beachtet, dass sich auch das Patientenmanagement selbst sowohl vor, während, als auch nach dem Eingriff deutlich geändert hat; hier sind verschiedene Disziplinen mit involviert. Zu diesen zählen neben den Operateuren die Anästhesisten, die Physiotherapeuten, das Stations- und Operationspflegepersonal, die Sozialarbeiter, die nachbehandelnden Institutionen und gelegentlich sogar bereits die Zuweiser. In der Gesamtheit stellt dieses eine funktionelle interdisziplinäre Therapie (FIT™ ) dar. Dieses Konzept soll die Hauptprobleme der Patienten vor elektiven Eingriffen reduzieren helfen; Trousdale et al. [1] zeigten bereits, dass diese Hauptängste der Patienten vor allem den postoperativen Schmerz und die lange Rehabilitationsphase betreffen.

 

Die Inhalte von FIT™ sind:

gute präoperative Patienteninformationen, z.B. durch die Endoprothesenschule [2], durch die Integration dieser Informationen in Clinical Pathways unter Miteinbeziehung der Zuweiser;

eine suffiziente präemptive (präventive) Schmerztherapie im Team mit der Anästhesie, z.B. durch Oberflächenanästhesien, Operationsfeldanästhesien, lokale Blockaden;

die Änderung des operativen Vorgehens, z.B. durch minimal invasive Operationszugänge, Verzicht auf den Einsatz von Redondrainagen und Blutsperren;

die Änderung in der postoperativen Phase, z.B. durch die schmerzadaptierte Vollbelastung nach endoprothetischer Hüft- bzw. Kniegelenksversorgung;

die spezielle Ausbildung von Physiotherapeuten und Pflegepersonal sowie

die individuelle Aufbelastung des Patienten bis hin zur Sportfähigkeit

In der Gesamtheit stellt dies somit ein Paket dar, in welchem das gesamte betreuende Team integriert werden sollte.

Präoperative Patienteninformation

Bereits die präoperativen Aspekte der Endoprothesenschule beinhalten einen multidisziplinären Ansatz, in den idealerweise der zuweisende Arztkollege genauso integriert wird wie der Operateur, die Physio- und Sporttherapeuten, Sozialarbeiter und Ergotherapeuten in der Akutklinik sowie die nachbehandelnden Ärzte. Hier steht die detaillierte präoperative Patienteninformation und -aufklärung im Vordergrund: Idealerweise erfolgen vor dem operativen Eingriff mehrere Unterrichtseinheiten, die in Vortragsblöcke und praktische Übungen zur Vorbereitung auf die postoperative Phase aufgeteilt sind. Die Schulung beginnt bereits im prästationären Bereich, wird dann konsequent stationär fortgeführt und endet in der späten Rehabilitationsphase (Tab. 1, Tab. 2).

Wang et al. [3] konnten darstellen, dass die präoperative Schulung in Kombination mit gezielten physiotherapeutischen Maßnahmen das funktionelle postoperative Ergebnis verbessern hilft. Es zeigte sich, dass die Therapiegruppe sowohl hinsichtlich der zurücklegbaren Gehstrecke als auch der Schritte pro Minute ein signifikant besseres Ergebnis erreichte als die Kontrollgruppe.

Idealerweise sollte die Patientenschulung in den „Clinical Pathway“ in den Klinikablauf integriert werden. So hat es sich beispielsweise bewährt, alle Gelenkersatz-Patienten etwa eine Woche vor der Operation an einem Tag in die Klinik einzuladen (soweit dies vom Einzugsbereich her geht). Über einen Zeitraum von etwa 4 Stunden werden Vorträge von Physiotherapeuten, Operateuren, Anästhesisten, Stationsschwestern und dem Sozialdienst angeboten. Am gleichen Tag erfolgen dann auch die präoperativen Röntgen- und Laboruntersuchungen sowie eine gezielte Patientenaufklärung durch den Operateur und den Anästhesisten. Dieses Vorgehen bindet an diesem Tag zwar viel Krankenhauspersonal, führt jedoch zu einer Zufriedenheit der Patienten und ist unter dem Strich effektiver als lediglich der 1:1-Kontakt mit dem Patienten, auch wenn dieser zusätzlich noch notwendig bleibt: Global gesehen wird hiermit eine Win-Win-Situation erreicht: Der Patient ist besser informiert, die Verwaltung hat in der Summe einen geringeren Personalaufwand und der Operateur einen zufriedeneren Patienten.

Präemptive (präventive) Schmerztherapie

Ganz erhebliche Änderungen haben sich in den letzten Jahren in der präemptiven (präventiven) Schmerztherapie ergeben. Prinzipiell werden hier prä-, intra- und postoperative Schmerztherapieansätze differenziert.

Die bereits präoperativ eingeleitete Schmerztherapie wird mit Analgetika durchgeführt, die die Thrombozytenfunktion wenig oder nicht beeinträchtigen. Hierzu zählen Cox-II-Hemmer, Paracetamol und Metamizol.

Intraoperativ sollte der Operateur ergänzend zu den anästhesiologischen Maßnahmen auf spezielle Verfahren zurückgreifen (s.u.).

Postoperativ dominieren heutzutage – neben den allgemeinen medikamentösen Schmerztherapieansätzen – periphere Nervenblockaden, die allerdings bisweilen die frühe Mobilisation beeinträchtigen können. Die patientenkontrollierte Schmerzpumpe (PCA) kann gleichfalls mit der frühen Mobilisation interferieren, wenn der Patient zu einer nicht adäquaten Dosierung greift.

 

Ein Blick in die Literatur zeigt, dass es sich bei der perioperativen Schmerztherapie keinesfalls um neue Erkenntnisse handelt. Bereits 1913 publizierte Crile im Lancet einen Artikel, der aufzeigte, dass regionale Nervenblockaden zusätzlich zur Intubationsnarkose die intraoperative Nozizeption und die Ausbildung „schmerzhafter Narben“, die durch Veränderungen im zentralen Nervensystem entstehen, reduzieren helfen. 1983 publizierte Woolf in Nature eine deutliche Evidenz für eine zentrale Komponente auf eine posttraumatische „Pain-Hypersensitivität“.

Es erscheint erstaunlich, dass trotz dieser lange bestehenden Erkenntnisse nur knapp 50% der Patienten ein Jahr nach muskuloskeletalen Eingriffen völlig schmerzfrei sind. Wird die perioperative Schmerztherapie nicht suffizient durchgeführt, entwickelt sich aufgrund bekannter Mechanismen aus dem akuten ein chronisches Schmerzerlebnis. Bei der Modulation der Nozizeptoren werden eine periphere Sensibilisierung, die durch Reduktion der Reizschwelle von Nozizeptoren entsteht, und eine zentrale Sensibilisierung mit genereller Zunahme der Schmerzempfindlichkeit unterschieden. Beide Faktoren resultieren in einer Hyperalgesie. Diese kann primär durch direkten Einfluss auf die Nozizeptoren entstehen, jedoch auch sekundär durch Veränderungen im umgebenden Gewebe sowie durch zentrales „Processing“ aufgrund der eingehenden Schmerzimpulse. Behandlungsziel ist, diese Hyperalgesie durch eine multimodale Schmerztherapie zu verhindern. Auf die Möglichkeiten in diesem Bereich, aber auch auf die erreichten Effekte wurde nicht nur in der anästhesiologischen Literatur mehrfach hingewiesen: Brooks zeigte, dass ein multimodaler Schmerztherapieansatz synergistische Summationseffekte verhindert [4]. Gleichfalls konnte belegt werden, dass ein Einsetzen der analgetischen Therapie vor Beginn des Schmerzes eine zentrale Sensibilisierung und Schmerzverstärkung verhindert oder zumindest deutlich reduziert.

Metaanalysen belegen auch die hohe Effektivität einer prophylaktischen Analgesie bei akuten postoperativen Schmerzen [5].

Entscheidenden Einfluss hierbei hat auch insbesondere der Operateur. Natürlich ist es wichtig, sich auf den Anästhesisten als Partner bei der Schmerztherapie zu verlassen; aber auch der Operateur kann intraoperativ einiges zur Schmerztherapie beitragen:

Hierzu zählen verschiedene Möglichkeiten der lokoregionalen Anästhesie. Als erstes ist hier die Lokalanästhesie der Haut im Bereich des Zugangsweges zu erwähnen, was zu einer deutlichen Reduktion des Schmerzempfindens des Patienten führt [6].

Des Weiteren kann der Operateur jedoch auch sog. „Infield-Blöcke“ legen: Hierbei handelt es sich um Leitungsanästhesien, die der Operateur im Bereich des sterilen OP-Feldes anlegen kann wie z.B. den N. subscapularis-Block sowie den Fuß-Block [7, 8]. Die Infiltration des tiefen OP-Feldes mit einem Schmerzcocktail führte in prospektiv kontrollierten Studien [9] zu einem signifikant geringerem Schmerzmittelverbrauch und zu einem geringeren Schmerzwert auf der VAS postoperativ. Die applizierten Substanzen sind unterschiedlich, sie reichen bis hin zu einer Kombination aus einem lokalen Anästhetikum, einem nichtsteroidalen Antiphlogistikum, einem Opioid und Epinephrin.

In unserer eigenen täglichen Operationspraxis führen wir für den subkutanen und epifaszialen Bereich eine zusätzliche Lokalanästhesie mit einer Kompresse durch, die mit Lokalanästhetikum getränkt ist, da ein reines Infiltrieren des Bereiches oftmals das Gewebe aufschwemmt. Die Technik mit der Kompresse beeinträchtigt nicht die Gewebesituation und erlaubt einen normalen Wundverschluss ohne ein ödematöses Aufquellen des subkutanen Gewebes.

Lokale Schmerzkatheter, die unter sterilen Bedingungen intraoperativ in das Operationsfeld gelegt werden, können die perioperative Schmerztherapie ergänzen (Abb.1).

Dieses System wird dann postoperativ mit Lokalanästhetikum nach einem vorgegebenen Schema (Tab.3) beschickt.

Verschiedene Arbeiten belegen die Effektivität dieser Maßnahmen im Bereich der Gelenkchirurgie [10-14].
Neben der perioperativen Schmerztherapie ist natürlich auch das intraoperative Vorgehen ganz entscheidend. Zweifelsfrei haben hier die minimal-invasiven Techniken im Bereich des Hüftgelenkes einen erheblichen Beitrag geleistet, ob über einen posterioren oder einen anterolateralen (ALMI) Zugang [15, 16] oder über eine streng anteriore Schnittführung.

Studien, bei denen ein Standardzugang direkt mit einem MIS-Hautschnitt verglichen wurde und bei denen die sonstigen perioperativen Maßnahmen identisch waren, zeigen jedoch oftmals, dass im klinischen Alltag der objektivierbare Effekt des minimal-invasiven Zuganges überschätzt wird. Dennoch gibt es hier Aspekte, die objektiv zu einer Verbesserung der postoperativen Mobilität führen [17].

Eine Periduralanästhesie bietet meist Vorteile, wobei jedoch zu beachten ist, dass das sensorische Niveau etwa 1–4 Etagen oberhalb des motorischen Niveaus anzusiedeln ist. Ein schmerzfreier Operationszugang zur Hüfte bedeutet somit nicht, dass gleichzeitig auch eine gute Muskelrelaxation vorliegt. Um beispielsweise den M. iliopsoas gut zu relaxieren, wird eine Periduralanästhesie mindestens bis TH 8 notwendig. Diese Schonung der Muskulatur erleichtert nicht nur das operative Vorgehen, sondern führt auch zu einer besseren Funktion, da die prä- und postoperative Muskelkraft deutlich mit dem Operationsergebnis korrelieren [18].

Auch der routinemäßige Einsatz von Redonsaugdrainagen sollte immer wieder überdacht werden. So zeigte sich in Metaanalysen, dass diese Drainagen meist nur zu einer Zunahme der Transfusionsnotwendigkeit nach Knie- und Hüftgelenksersatz führen, sie bieten aber keine Vorteile, die Wundheilung ohne Saugdrainagen ist in aller Regel nicht schlechter als mit ihnen [19].

Als weiterer Baustein ist das Blutmanagement (autologe Retransfusion) zu nennen. Patienten mit einem höheren postoperativen Hb-Wert zeigen deutlich kürzere Rehabilitationsphasen, einen kürzeren Krankenhausaufenthalt und eine bessere Funktion [20].

Postoperativer Belastungsaufbau

In der postoperativen Phase spricht nach endoprothetischem Ersatz des Hüft- bzw. Kniegelenkes nichts gegen eine schmerzadaptierte Vollbelastung, auch wenn diese in Deutschland noch nicht als genereller Standard angesehen wird. Eine frühe axiale Aufbelastung scheint keinen negativen Einfluss auf das Knochen-/Implantat-Interface zu haben [21-22]. Dies mag auch für moderne metadiaphysär verankerte Kurzschaftsysteme gelten [23].

Beim sog. Durchschnittspatienten mit regelechtem Körpergewicht, ohne wesentliche anatomischen Auffälligkeiten im Bereich der Hüfte (z.B. schwere Dysplasie, rheumatische Destruktion), ohne aufgetretene intra- und postoperative Komplikationen (z. B. Fissur, Fraktur) ist sowohl nach zementiertem als auch nach zementfreiem endoprothetischem Ersatz von Hüfte und Knie in der frühen postoperativen Phase eine weitgehende axiale Vollbelastbarkeit des betroffenen Beines anzunehmen. Die Patienten werden ab dem ersten bis zweiten Tag nach dem Eingriff unter Einsatz zweier Unterarmgehstützen zunächst im Dreipunktegang schmerzadaptiert mobilisiert. Besteht hierbei weitgehende Schmerzfreiheit, so ist bereits in dieser Phase eine volle Belastung des operierten Beines erlaubt. Spätestens mit abgeschlossener Wundheilung, somit ab dem 12.-14. Tag nach dem gelenkersetzenden Eingriff, kann dann – bei weiterem Einsatz zweier Unterarmgehstützen – mit dem sog. Wechselschritt (Vierpunktegang) begonnen werden.

Grundsätzlich gilt für die axiale Aufbelastung natürlich die jeweilige Empfehlung des Operateurs. Als generelle Ausnahmen für eine längere Teilentlastung des operierten Beines (lediglich Dreipunktegang mit Teilbelastung von 20–30 kp möglich) gelten:

 

eine intraoperativ aufgetretener Fissur/Fraktur (Femurschaft, Femurkondyle, Tibiakopf) (Abb. 2),

ein intraoperativ aufgetretener knöcherner Abriss bzw. eine erfolgte Osteotomie (Trochanter major, Tuberositas tibiae) mit anschließender Osteosynthese,

ein intraoperativ erfolgter Aufbau mit Spongiosaplastik oder kortikalem Knochen im Zuge von Austauscheingriffen (Pfannengrund, lateraler Pfannenerker, Tibiakopf u.a.)

eine primäre Implantatfehlposition mit unklarer Stabilität (Abb. 3),

Wechseloperationen mit schlechtem Knochenlager und unklarer Stabilität.

 

Die Frage, ob die Abschulung von Gehstützen über den vorübergehenden Einsatz nur einer kontra-lateval eingesetzten Gehhilfe erfolgen sollte oder ob sofort mit einem freien Gehen begonnen werden kann, wird teilweise kontrovers diskutiert. Die Möglichkeit, auf eine Gehstütze zurückzugreifen, hat sicherlich den Nachteil, dass der Patient sich möglicherweise zu stark auf diese abstützt und somit ein schiefes Gangbild entwickeln kann. Andererseits ist aber auch die Umstellung von zwei Unterarmgehstützen auf überhaupt keine Gehhilfe mehr relativ groß, wird von einigen Patienten als oft unangenehm empfunden und daher auch nicht gerne toleriert. Bei längeren Wegstrecken treten oft Ermüdungserscheinungen der hüft- bzw. knieumspannenden Muskulatur hinzu, die dann, trotz zunächst zufriedenstellender Gangabwicklung, wieder einen Hinkmechanismus entstehen lassen. Insofern kann ein längere postoperativer Einsatz einer oder sogar beider Gehhilfen durchaus sinnvoll sein (Tab. 4).

 

Als Faustregel im Falle unkomplizierter Verhältnisse gilt:

Übergang auf eine kontralateral einzusetzende Gehstütze nach 4–6 Wochen (im Falle eines minimal-invasiven Vorgehens auch schon früher).

Nach 6 postoperativen Wochen sollte das Gehen mit einer Gehstütze möglich sein.

Ab der 9. postoperativen Woche kann dann zumindest auf kürzeren Wegstrecken auf eine Gehstütze ganz verzichtet werden.

Ab der 12. postoperativen Woche sollte in aller Regel ein freies Gehen erreicht sein.

 

Unterstützt wird das Abschulen der Gehstützen durch die Fortführung krankengymnastischer Maßnahmen, insbesondere aus der gerätegestützten Funktionsbehandlung.

Postoperatives sozialmedizinisches Management

Nach dem operativen gelenkersetzenden Eingriff ist eine sinnvolle Rehabilitation unabdingbar. An zeitlichen Vorgaben gelten hier:

etwa zweiwöchige Behandlung im Akuthaus,

drei- (bis vier-) wöchige stationäre oder teilstationäre Rehabilitation in einer entsprechenden Nachsorgeabteilung.

Im Anschluss daran erfolgt über weitere sechs Wochen die engmaschige ambulante Weiterbetreuung durch den niedergelassenen Arzt.

 

In Deutschland nehmen aktuell etwa 50% aller Patienten nach endoprothetischer Versorgung (insgesamt > 330.000 primäre Hüften und Knie/Jahr) eine stationäre Rehabilitation im Sinne einer Anschlussheilbehandlung (AHB) wahr. Die Nachbehandlung ist hier heutzutage meist standardisiert (durch sog. Behandlungsmodule; [24]) mit Kombination bewegungstherapeutischer, physikalischer, balneologischer und trainingstherapeutischer Therapieeinheiten. Eine Ossifikationsprophylaxe über eine Woche (nur bei Hüft-TEP), eine Thromboembolieprohylaxe über zumindest 4 Wochen bei Hüft-TEP bzw. 2 Wochen bei Knie-TEP (mit fraktioniertem Heparin bzw. oralen Thrombinhemmern u.a.) ist unabdingbar.

Etwa 12 Wochen nach Implantation eines künstlichen Hüft- oder Kniegelenkes ist in aller Regel ein Zustandsbild erreicht, das dem Patienten eine Reintegration in das Erwerbsleben ermöglicht. Selbstverständlich ist dies abhängig von der Art der beruflichen Tätigkeit. Schwere körperliche Tätigkeiten sind nach einem alloplastischen Gelenkersatz im Bereich der unteren Extremität sicherlich, auf Dauer im Hinblick auf die Implantatbelastung (klassisches Verschleißteil !) nicht mehr sinnvoll. Allerdings können leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung durchaus wieder vollschichtig verrichtet werden. Für Patienten im Erwerbsleben bietet hier der Rentenversicherungsträger im Allgemeinen die Möglichkeit eines sinnvollen Stufeneinstiegs. Der GdB (Grad der Behinderung) nach dem Schwerbehindertengesetz beträgt im Regelfall bei einseitiger gut funktionstüchtiger Hüft-TEP 20, im Falle einer Knie-TEP meist 30.

Sportliche Belastbarkeit

Neben dem Belastungsaufbau nach endoprothetischem Gelenkersatz im Bereich der unteren Extremität ist für den Patienten heutzutage natürlich auch die Frage eminent wichtig, welche sportlichen und körperlichen Aktivitäten er/sie nach dem Eingriff noch durchführen kann.

Mit leichteren körperlichen Belastungen, z.B. im Rahmen der medizinischen Trainingstherapie, kann sicherlich früh bereits nach 3–4 postoperativen Wochen begonnen werden (Übungen dann möglichst nur in einer Raumebene). Dies kann nach zwölf postoperativen Wochen noch weiter intensiviert werden.

Eine sportliche Belastbarkeit im weiteren Sinne ist jedoch erst dann anzudenken, wenn völlig stabile periartikuläre muskuläre Verhältnisse bestehen. Dies ist infolge eines degenerativen Gelenkaufbrauchs mit länger bestehender Schonung und dann auch muskulären Defiziten meist erst ab dem ersten postoperativen Halbjahr möglich. Die sportliche Vorerfahrung mit engrammierten Bewegungsabläufen ist dann sicherlich mit entscheidend. Hier hat sich folgende Differenzierung sportlicher Betätigungen durchgesetzt:

Unbedenkliche Sportarten sind solche ohne kinetische Spitzenbelastungen mit möglichst gleichmäßigen regelmäßigen Bewegungsabläufen (z.B. Schwimmen, Fahrradfahren, Walking).

Tolerierte Sportarten wie Jogging, Golf, Kegeln etc. verlangen oft Regelmodifikationen mit sinnvoller „Entschärfung“ hüft- bzw. kniebelastender Bewegungsabläufe.

Bedenkliche Sportarten sind solche mit direktem Körperkontakt wie Kraft- und Kampfsportarten, Mannschaftssportarten, teilweise auch Alpin-Ski u.ä. [25].

 

Als grundsätzliche Kontraindikationen für eine Sportausübung nach Implantation eines Kunstgelenkes gelten:

eine bereits röntgenologisch diagnostizierte, nicht belastungsgerechte Fehllage des Implantates (Abb. 3),

eine bereits erfolgte Austauschoperation mit dann oft fortbestehenden deutlicheren koordinativen Beeinträchtigungen,

eine Gelenkinstabilität (Hüfte) mit Luxation in der Anamnese,

ausgeprägte funktionelle Beeinträchtigungen des betroffenen Kunstgelenkes (vor allem bezüglich der Flexion)

eine floride oder erst kürzlich überstandene tiefe Wundinfektion,

eine klinisch bzw. radiologisch nachgewiesene Instabilität einer oder mehrerer Prothesenkompnenten,

eine ausgeprägte Beinlängendifferenz.

Spätere Nachsorge

Regelmäßige klinische und radiologische Kontrollen beim niedergelassenen Orthopäden/Unfallchirurgen in ein- bis zweijährigen Abständen mit anschließender Dokumentation im Endoprothesenpass sind wünschenswert. Die Röntgenkontrollen sollten dabei stets beim stehenden Patienten erfolgen (Gelenkbelastung mit dann Darstellung eines möglichen Aufbrauches des Verschleißteiles Polyethylen!).

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jörg Jerosch

Chefarzt

Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin

Am Hasenberg 46

41462 Neuss

E-Mail: j.jerosch@ak-neuss.de

Literatur

1. Trousdale RT, McGrory BJ, Berry DJ et al.: Patients’ concerns prior to undergoing total hip and total knee arthroplasty. Mayo Clin Proc. 1999: 74: 978–982

2. Jerosch J., J.Heisel: Endoprothesenschule. Rehabilitations- und Betreuungskonzepte für die ärztliche Praxis. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1996

3. Wang AJ, IL L: Perioperative education & physiotherapy improves early functional outcome. Am J Phys Med Rehabil 2002; 81: 801–806

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5. Ong CK, Lirk P, Seymour RA, Jenkins BJ.: The efficacy of preemptive analgesie for acute postoperative pain management: a meta-analysis. Anesth Analg. 2005; 100: 757–773

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11. Liu SS, Richman JM, Thirlby RC, Wu CL.: Efficacy of continuous wound catheters delivering local anesthetic for postoperative analgesia: a quantitative and qualitative systematic review of randomized controlled trials. J Am Coll Surg. 2006; 203: 914–932

12. Vendittoli PA, Makinen P, Drolet P et al.: A multimodal analgesia protocol for total knee arthroplasty. A randomized, controlled study. J Bone Joint surg Am. 2006; 88: 282–289

13. Cho NS, Ha JH, Rhee YG.: Patient-controlled analgesia after arthroscopic rotator cuff repair: subacromial catheter versus intravenous injection. Am J Sports med. 2007; 35: 75–79

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22. Bodén H, Adolphson P: No adverse effects of early weight bearing after uncemented total hip arthroplasty: a randomized study of 20 patients. Acta Orthop Scand 2004 Feb; 75(1): 21–9

23. Jerosch, J., H.Glameyer: Anatomische Anforderungen an ein Kurzschaftsystem (Mini-Hip). Orthopädische Praxis 2009; 45: 74–81

24. Heisel, J.; J. Jerosch: Rehabilitation nach Hüft- und Knieendoprothese. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2008

25. Jerosch,J.; J. Heisel: Hüfte und Sport. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2009

Fussnoten

1 Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin, Johanna-Etienne-Krankenhaus, Neuss

2 Fachkliniken Hohenurach, Orthopädische Abteilung, Bad Urach

DOI 10.3238/oup.2012.0121-0128

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