Übersichtsarbeiten - OUP 06/2021

Ein Arthrosemanagement ist nur multimodal und interdisziplinär vollständig

Jörg Jerosch

CME

1

Punkt

Lernziele:

Vermittlung der grundlegenden epidemiologischen Kenntnisse zur Arthrose

Vermittlung der Pathogenese des Knorpelschadens

Darstellung der üblichen Klassifikation des Knorpelschadens

Darstellung der Diagnostik des Knorpelschadens

Vermittlung der konservativen therapeutischen Ansätze

Zusammenfassung:
Im vorliegenden Artikel werden die Grundkonzepte des Arthrosemanagements zusammengefasst. Hierbei ist darauf zu achten, dass aufgrund der multiplen möglichen Ursachen für eine Arthrose sowie der Tatsache, dass Arthrosepatienten mit Co-Morbiditäten behaftet sind und deshalb in der Regel auch eine Vielzahl von Co-Medikationen erhalten, ein eindimensionaler Therapieansatz fehlschlagen muss. Es ergibt sich vielmehr zwangsläufig die zwingende Notwendigkeit zu einem individuell abgestimmten multimodalen und interdisziplinären Vorgehen.

Schlüsselwörter:
Arthrose, Ursachen, Diagnose, Therapie

Zitierweise:
Jerosch J: Ein Arthrosemanagement ist nur multimodal und interdisziplinär vollständig.
OUP 2021; 10: 293–301
DOI 10.3238/oup.2021.0293–0301

Summary: The present article presents the basic concepts of OA management. Due to the multiple different causes for OA and the fact that OA patients suffer from multiple co-morbidities and take multiple co-medications, the treatment of OA never be unidimensional. There need to be, however, an individual multimodal and interdisziplinary concept for every patient.

Keywords: OA, reasons, diagnosis, treatment

Citation: Jerosch J: Osteoarthritis management is only complete, if it is multimodal and interdisciplinary.
OUP 2021; 10: 293–301. DOI 10.3238/oup.2021.0293–0301

Wissenschaftsbüro Jörg Jerosch, Meerbusch

Einleitung

In Deutschland leiden etwa 5 Millionen Menschen an einer Arthrose; etwa 2 Millionen haben tägliche Schmerzen an den Gelenken. Ab dem 60. Lebensjahr sind etwa die Hälfte der Frauen und ein Drittel der Männer betroffen. Am häufigsten betroffen sind Hände, Knie und Hüfte. Bei den Hüftgelenken sind beider Geschlechter etwa gleich betroffen; bei Hand- und Kniearthrosen sind Frauen im Alter jedoch doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Während vor 30 Jahren die Hauptindikation zur Arthrose-Therapie und Endoprothesen-Implantation die Schmerzen und Behinderung waren, so hat sich dieses deutlich verändert. Heute stellt die Einschränkung der Lebensqualität die primäre Indikation dafür dar, dass Patienten nach einer entsprechenden Arthrose-Therapie suchen. Es hat sich somit eine gewisse Metamorphose der Arthrose-Therapie von der „Greisen-Therapie“ zur „Lifestyle-Therapie“ entwickelt.

Leider wird in vielen Publikationen zur Arthrosetherapie zu sehr auf eindimensionalen Therapieansätzen abgehoben. Es liegt eine AWMF-Leitlinie für die Behandlung der Gonarthrose vor, welche den aktuellen Wissensstand gut wiederspiegelt [2]. Sie unterstreicht die Notwendigkeit zu einem multimodalen Therapieansatz; was im klinischen Alltag jedoch nicht ausreichend realisiert wird.

Momentan befinden wir uns beim Arthrosemanagement dort, wo wir beim Diabetes mellitus vor 20 oder mehr Jahren waren. Bei der Arthrose werden mehrheitlich nur die Arthrosefolgen durch knorpelchirurgische Maßnahmen oder Gelenkersatzoperationen behandelt. Beim Diabetes mellitus haben wir gelernt, dass eine frühzeitige Diagnostik und entsprechende Therapie, Folgeschäden weitgehend vermeiden kann. Eine derartige Einstellung wäre beim Arthrose-Management ebenso sinnvoll.

Der vorliegende Artikel zum Arthrosemanagement bespricht die folgenden Aspekte:

  • - Epidemiologie des Knorpelschadens
  • - Pathogenese des Knorpelschadens
  • - Klassifikation des Knorpelschadens
  • - Diagnostik des Knorpelschadens
  • - Therapeutische Ansätze

Epidemiologie des
Knorpelschadens

Aus epidemiologischer Sicht hat sich die Situation in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert und verändert sich auch weiterhin. Lebenserwartung, BMI (Body Mass Index) sowie die Aktivitäten des täglichen Lebens sind deutlich gestiegen; weiterhin haben die Patienten einen höheren Anspruch an ihre Gelenke. Daneben muss man realisieren, dass bereits Ende 2010 laut WHO 50 % der Frauen, die 50 Jahre alt wurden, eine Chance haben, auch 100 Jahre alt zu werden. Die Anzahl der Patienten in einem Lebensalter von über 65 Jahren wird voraussichtlich in der nächsten Dekade um 20 % ansteigen.

Bei den degenerativen Veränderungen führen bei Weitem Knie- und Hüftgelenke. Daneben sind jedoch auch Großzehengrundgelenke, Schultergelenke und Ellenbogengelenke in einem klinisch relevanten Anteil betroffen.

Alle Kennzahlen erwarten eine deutliche Zunahme der primären Schulter-, Knie- und Hüft-Endoprothesen im nächsten Jahrzehnt. Betrachtet man die Daten des statistischen Bundesamtes für Deutschland, so zeigt sich dementsprechend auch ein deutlicher Anstieg der Krankheitskosten für die Arthrose-Therapie in der BRD.

Pathogenese des
Knorpelschadens

Bereits die möglichen Ursachen von Knorpelveränderungen zeigen die Notwendigkeit eines multimodalen und interdisziplinären Zuganges für eine adäquate Therapie auf. Hier sind folgende Faktoren zu nennen:

  • - Mechanische Faktoren (z.B. Beinachsenveränderungen, Hüftdysplasie, posttraumatische Veränderungen, Slope-Veränderungen am Kniegelenk, Meniskusverletzungen u.v.m.)
  • - Neurologische Veränderungen (Verlust von Mechanorezeptoren nach Kreuzbandruptur)
  • - Hohes Körpergewicht als mechanischer Faktor: Personen mit einem Körpergewicht von mehr als 30 % Übergewicht haben ein dreimal höheres Risiko, an einer Arthrose zu erkranken, als Patienten mit einem Übergewicht von unter 20 %. Hier wirkt sich die generelle Zunahme des BMI in Zivilisationsländern deutlich ungünstig aus. Der Anteil der Erwachsenen mit dem Risikofaktor Adipositas hat sich in Deutschland zwischen 2000 und 2015 auf knapp 25 % verdoppelt [13, 62]. Bedingt durch die Corona Krise hat sich diese Situation noch weiter verschärft.
  • - Hohes Körpergewicht als metabolischer Faktor: Messparameter wie BMI, Bauchumfang, Verhältnis von Taille und Hüftumfang korrelieren mit der Notwendigkeit zur Implantation einer Hüft-Endoprothese. Besonders in der rheumatologischen Literatur ist der metabolische Aspekt der Osteoarthrose besonders intensiv dargestellt. Schon Hummer et al. zeigten die Zusammenhänge sehr deutlich auf und demonstrierten die Funktion des Fettes als endokrines Organ [31]. Hier scheint insbesondere das viszerale Fett besonders intensiv inflammatorische Faktoren (Interleukin-1, Interleukin-8, Interleukin-18, Interleukin-6, TNF?, Leptin, Resistin, Visfatin, SP, NGF) zu produzieren, die sich negativ auf den Gelenkknorpel, die Synovialmembran, aber auch auf den subchondralen Knochen auswirken [35].
  • - Krankheitsbilder aus dem rheumatischen Formenkreis
  • - Molekulargenetische Ursachen: Im Laufe des Lebens kommt es zum Verlust der Proteinsignalwege, die den Gelenkknorpel während der reproduktiven Lebensphase schützen, z.B. TGF-?-Signal (Chondrozyten Transforming Growth Factor Beta) [56].

Klassifikation des
Knorpelschadens

Klinisch wird die Diagnose anhand der Parameter Beweglichkeit, Krepitus, Deformität, Patientenalter, Druck- Ruhe- und Bewegungsschmerz gestellt; ein Beispiel einer Klassifikation der Gonarthrose sind die Kriterien des American College of Rheumatology (Tab. 1). Die makroskopische Einteilung von Knochenschäden erfolgt u.a. nach Outerbridge. In Erweiterung der 4-stufigen Outerbridge-Klassifikation von 1961 wurde 2003 durch die International Cartilage Research Society das ICRS Hyaline Cartilage Lesion Classification System veröffentlicht (Tab. 3). Klassifiziert wird die Arthrose radiologisch international nach wie vor nach Kellgren und Lawrence [42] (Tab. 4, Abb. 1).

Diagnostik des
Knorpelschadens

Grundlagen der Arthrosediagnostik sind eine sorgfältige Anamnese und die klinische Untersuchung (Tab. 5). Ruhe- und vor allem Belastungsschmerzen sind ebenso typisch wie der morgendliche Anlaufschmerz. Bei der Frage nach den Schmerzen bei einer Coxarthrose, ist das C-Zeichen typisch (Abb. 2). Die nasskalte Witterung im deutschen Winter vertragen die Patienten in der Regel schlechter als das milde Klima auf Mallorca. Klinisch finden sich Schwellungen der betroffenen Gelenke ebenso wie Bewegungseinschränkungen mit weichem Anschlag. An den distalen Fingergelenken beklagten die Patienten (meist Frauen) deutliche Schwellungen mit leichten Verformungen. An den Zehen sind die Fehlstellungen meistens noch deutlich ausgeprägter.

Hinsichtlich der bildgebenden Diagnostik bleibt auch in der aktuellen AWMF-Leitlinie Gonarthrose die primäre Diagnostik nach wie vor die Röntgenaufnahme. Beim Kniegelenk ist zur besseren Verwertbarkeit der Frontalaufnahme diese im belasteten Zustand durchzuführen. Weitere bildgebende Verfahren, insbesondere auch die morphologische Kernspintomographie bleiben nur bestimmten Fragestellungen vorbehalten. So wird die Kernspintomographie auch von der Leitlinie nur empfohlen bei Meniskuszeichen, Kreuzband-Instabilität, Synovialitis wie ansonsten unklarer Beschwerdesymptomatik.

Im Rahmen der kontinuierlichen Begleitung von individuellen Patienten mit einer Arthrose ist ebenso von Interesse, wie die Arthrose dieses Patienten voraussichtlich im Laufe der Zeit voranschreiten wird. Generell ist hier zu bedenken, dass je früher ein Knorpelverschleiß diagnostiziert wird, desto besser die Behandlungsoptionen sind. Auch kleinere Knorpelschäden führen im Weiteren unweigerlich zu einer Progression des Knorpelschadens [43, 47, 53]. Hier sind die üblichen diagnostischen Verfahren wie Anamnese, klinische Untersuchung, Röntgen sowie das morphologisches Kernspin bisher nur bedingt hilfreich.

Eine neue interessante Möglichkeit bildet der Early Osteoarthritis Questionnaire (EOAQ), welche von der ISIAT (International Symposium Intra Articular Treatment) erstellt wurde [45]. Ziel ist es, mit diesem validierten Fragebogen Knorpelveränderungen im frühen Stadium zu detektieren und im weiteren therapeutischen Verlauf zu monitoren, sodass ein Längsschnittverlauf der therapeutischen Bemühungen bei frühen Knorpelschäden dokumentiert werden kann.

Eine weitere Möglichkeit würde hier das sog. funktionelle Kernspin geben, mit welchem Stoffwechselprozesse im Gelenkknorpel sehr frühzeitig dargestellt werden. Eine andere Möglichkeit stellen sogenannte Biomarker dar, die Abbauprodukte des Gelenkknorpels im Serum oder Urin darstellen. Hierzu zählt beispielsweise CTX-II im Urin, COMP im Serum und andere. Im grundlagenwissenschaftlichen Bereich gibt es hierzu eine Vielzahl von Literatur. Interessant wäre es, derartige Biomarker-Messungen auch in der Breite verfügbar zu machen. Ein nahezu fertiges Produkt hierzu hat jedoch den letzten Schritt in den Markt aufgrund von Umstrukturierungen in einer großen Pharmafirma nicht mehr geschafft. Mit einem solchen Produkt wäre ein individuelles Monitoring des Patienten auch über Jahre mit überschaubaren finanziellem und organisatorischem Aufwand möglich gewesen. Man hätte hiermit die Therapie auch individuell gestalten können.

Therapeutische Ansätze bei Knorpelschaden

Aufgrund der oben dargestellten multiplen Ursachen empfiehlt es sich, bei Diagnostik und Therapie im Rahmen des Arthrose-Managements einen multimodalen und interdisziplinären Ansatz zu wählen. Dieses gilt insbesondere bereits bei der Auswahl medikamentöser Therapieansätze. Die Literatur zeigt, dass die Arthrose in der Regel keine isolierte Erkrankung darstellt [20, 22, 32, 38, 39, 49, 57].

Der typische Patient ist älter als 45 Jahre, hat mehr als eine Komorbidität, nimmt in der Regel multiple Medikationen und hat darüber hinaus noch andere altersbedingte muskuloskelettale Veränderungen. Vom Grundsatz gelten nach wie vor die EULAR-Richtlinien, wie sie bereits im Jahr 2005 aufgestellt wurden. Diese sind nach wie vor vergleichbar in den aktuellen AWMF-Leitlinien enthalten. Vom Grundsatz her sind im konservativen Bereich des Arthrosemanagements eine nicht medikamentöse Basisbehandlung sowie die medikamentöse Therapie zu berücksichtigen.

Nicht medikamentöse
Basisbehandlung und Selbstmanagement des Patienten

Patienteninformation und

Patientenschulung

Patienten sollen über die Erkrankung, Vorbeugung der Krankheitsprogression, Verbesserung der Lebensqualität und Mobilität aufgeklärt werden. Dieses beinhaltet vor allen Dingen eine intensive Beratung hinsichtlich der Modifikation der Aktivitäten des täglichen Lebens (motivationale Beratung).

Gewichtsabnahme bei

übergewichtigen Patienten

Bei einer Gewichtsreduktion von wenigstens 5 % innerhalb von 6 Monaten ist eine messbare Verbesserung der klinischen Symptomatik und der Gelenkfunktion zu erwarten. Bei einem Gewichtsverlust von 10 % zeigt sich eine signifikante Verbesserung der klinischen Symptome. Ebenso finden sich eine Verbesserung der Qualität und der Dicke des medialen femoralen Gelenkkompartiment-Knorpels. Konsequenterweise muss eine ökotrophologische Beratung mit in das Arthrose-Management eingebaut werden.

Übungsprogramme/

sportliche Aktivität

Patientenschulung soll insbesondere über Übungsprogramme sowie sportliche Aktivität informieren [18]. Beides hat in unterschiedlichen Modellen (individuell, Gruppentraining, Home Exercises) einen positiven Effekt auf Schmerz und Funktion. Die meisten Autoren empfehlen ein gemischtes Programm, das Muskelkräftigung, Verbesserung der aeroben Kapazität sowie Verbesserung der Flexibilität und der Beweglichkeit beinhaltet [18]. Auch für Tai Chi gibt es eine positive Empfehlung [41]. Sport- und physiotherapeutische Ansätze sind mit zu integrieren. Einen positiven Aspekt hat insbesondere auch die Bewegungs- und Sporttherapie. Hier ist neben Dehnung und Koordination vor allem aber auch die Muskelkräftigung hervorzuheben. Verschiedene Studien zeigen, dass insbesondere Muskel kräftigende Konzepte zu einer Reduktion des Schmerzempfindens der betroffenen Gelenke führt [3].

Hilfsmittel

Varus- und Valgus-Malalignement stellen einen Risikofaktor für die Kniearthrose dar. Hierbei besteht die Indikation zu Schuhranderhöhungen, Pufferabsätzen oder Braces [52]. Ideale Patienten für Bracing sind jüngere Patienten, die körperlich aktiv sind, kein relevantes Übergewicht haben und nur eine unikompartmentelle, symptomatische, tibiofemorale Arthrose mit entsprechendem Malalignement aufweisen, das korrigierbar ist durch Varus- oder Valgusstress. Es kann auch sinnvoll sein, Braces mit Fußorthesen und entsprechendem Schuhwerk zu kombinieren. Es besteht keine ausreichende Evidenz, inwieweit Braces oder andere Schutzvorrichtungen die Progression der Arthrose verlangsamen. In den EULAR-Richtlinien finden sich z. B. keine positiven Empfehlungen für die Schuhzurichtungen bei der Kniearthrose, da durchaus auch negative Effekte auftreten können. Leitlinien oder RCTs finden sich bezüglich Schutzvorrichtungen auch nicht Hand-, Finger- oder Sprunggelenkarthrosen. Ein klinisch erfahrener Orthopädietechniker wird jedoch durchaus auch für derartige Patienten entsprechende Hilfsmittel empfehlen können. Ein entsprechendes Schuhwerk generell (schockabsorbierende Sohlen, Fußgewölbeunterstützungen), eine Pronationskontrolle sowie die Vermeidung von hochhackigen Schuhen werden durchaus empfohlen [18]. Hilfsmittel wie Schuhaußenranderhöhung, Unloader-Braces oder Pufferabsätze haben sich über Jahrzehnte bewährt und finden auch in der AWMF-Leitlinie ihren Niederschlag. In diesem Bereich ist eine orthopädietechnische Unterstützung bei der individuellen Patientenberatung zu integrieren.

Sonstige Maßnahmen

Wärmebehandlungen und Ultraschall zeigten in einigen Studien eine gewisse Effektivität. Das Gleiche gilt für die manuelle Therapie in Kombination mit einer Bewegungstherapie sowie ein Patella-Taping. Balneotherapie und Akupunktur zeigten in Metaanalysen die höchste Evidenz aller physikalischen Therapiemaßnahmen [12]. In den ACR-Guidelines [29] findet sich eine Empfehlung dahingehend, dass TENS und Akupunktur reserviert sind als nichtpharmakologische Alternative zur Operation, wenn die Operation kontraindiziert ist oder der Patient dieser nicht zustimmt. Auch eine Blutegel-Behandlung zeigt in verschiedenen Studien einen nachweisbaren Effekt, so dass durchaus auch naturheilkundliche Ansätze mit integriert werden sollten.

Eine wesentliche Rolle spielt das Selbstmanagement des Patienten. Der behandelnde Arzt klärt hinsichtlich Selbstmedikation auf und unterstützt anleitend. Bei einer Umfrage von mehr als 18.000 Erwachsenen litten 83 % mindestens einmal pro Jahr an Muskelschmerzen, 73 % an Gelenkschmerzen (Arthrose oder rheumatoide Arthritis) und 61 % an Schmerzen in Bändern, Sehnen und Knochen [23–25]. Hinsichtlich des Selbstmanagements gaben 91 % der Befragten an, dass sie eigenständig eine Schmerzbehandlung durchführten; hierbei hatten Analgetika mit 60 % den größten Anteil. Auch der nicht-medikamentöse Bereich zeigte einen erheblichen Prozentsatz. 48 % der Befragten behandelten ihre Beschwerden mit körperlicher Entspannung bzw. Schlafen, 25 % verfolgten eine Bewegungstherapie und 23 % andere nicht medikamentöse Ansätze wie Kryo- oder Wärmetherapie. Der Anteil der Befragten, die ärztlichen Rat aufsuchten lag bei lediglich 25 %. Dies bedeutet, dass 75 % der Betroffenen die Schmerzen ohne ärztliche Konsultation in Eigenregie behandelten.

Medikamentöse Therapie

NOPA (Nicht-Opioid-Analgetika)

Bei der Verwendung von NOPAs sind verschiedene Aspekte zu bedenken [7]. Paracetamol wird in den aktuellen Leitlinien nicht mehr empfohlen. Die analgetische Wirkung ist zu gering und die freie Verfügbarkeit für den Patienten führt schnell dazu, dass der Patient mit seiner Dosierung in einen hepatotoxischen Bereich kommt. Metamizol ist als Schmerzmittel auch und gerade im Bereich der Orthopädie und Unfallchirurgie weit verbreitet, hat jedoch kein Label für die Erstanwendung bei der Arthrose. Die primäre Indikation liegt im Bereich der perioperativen Schmerztherapie sowie bei Schmerzzuständen, die anders schon frustran gehandelt wurden. Daneben ist dringend eine Risiko- und Sicherungsaufklärung zu beachten [34].

Topische oder orale NSAR

Es bleibt somit relativ rasch das Feld der nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR). Hier hat sich in verschiedenen Studien gezeigt, dass NSAR in der topischen Anwendung durchaus effektiv ist und mit deutlich weniger Nebenwirkungen behaftet ist [54].

Pharmakokinetik der topischen NSAR

Mit der Entwicklung von Pflastern, Gelen und Sprays wurden verschiedene Strategien verfolgt, um eine gewünschte Wirkstoffexposition lokal zu erzielen [8, 17, 19, 21, 46, 48, 51, 60, 61]. Eine Studie bei 23 Patienten mit prothesenpflichtiger Gonarthrose zeigte, dass bei einer kutanen Applikation von Diclophenac Diethylamin 1,16 % Gel (3 x täglich 80 mg) eine therapeutisch wirksame Konzentration in oberflächennahen Kompartimenten und im periartikulären Gewebe erreicht wurde [21]. Eine andere Studie mit Diclophenac Diethylamin 2,32 % Gel (2 x täglich 4 g Gel entsprechend 74,4 mg Wirkstoff) bei Patienten mit einer Gonarthrose zeigte, dass bei einer 7-tägigen kutanen Applikation auch noch nach 12–15 Stunden eine Wirkstoffkonzentration im Synovialgewebe und in der Synovialflüssigkeit oberhalb der Nachweisgrenze gemessen werden konnte [51].

Evidenz topischer NSAR

Diclofenac, Ibuprofen, Ketoprofen, Piroxicam und Indometacin sind die klinisch relevanten Vertreter der nicht verschreibungspflichtigen topischen NSAR. Hierzu liegen entsprechende Studien vor [14, 15, 59]. Ein Cochrane-Review hat die meist placebokontrollierten, randomisierten und doppelblinden Studien dokumentiert und ausgewertet. Eingeschlossen wurden in diesen Studien vornehmlich Patienten mit akuten Schmerzen aufgrund von Zerrungen, Verstauchungen und Überbeanspruchung. Die topische Behandlung begann innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen und dauerte zwischen 5 Tagen und 3 Wochen an. Die Auswertung erfolgte nach ca. 7 Behandlungstagen mit dem Endpunkt der erfolgreichen Behandlung, definiert durch eine mindestens 50 %ige Reduktion des Schmerzes. Die Cochrane-Analyse belegte bei diesen Patienten kollektiv durchaus einen therapeutischen Effekt. Auch für chronische Schmerzen gibt es ein Cochrane-Review mit guter Übersicht über die Wirksamkeit und Verträglichkeit von topischen NSAR [14, 59]. Hierin wurden berücksichtigt randomisierte, kontrollierte, doppelblinde klinische Studien bei Patienten mit Arthroseschmerzen von zu mindestens 3 Monaten und zu mindestens moderater Schmerzintensität. Das Durchschnittsalter lag zwischen 59 und 65 Jahren und die Behandlungsdauer zwischen 2 und 12 Wochen. Auch in diesem Cochrane-Review war der primäre Endpunkt die erfolgreiche Behandlung, die definiert war als mindestens 50%ige Reduktion der Schmerzen bzw. eine sehr gute oder exzellente Bewertung oder fehlende bzw. schwache Schmerzen in Ruhe oder in Bewegung.

Der Anteil der Patienten mit erfolgreicher Behandlung betrug bei einer Behandlungszeit von 6–12 Wochen unter Diclophenac 60 % gegenüber 50 % unter Placebo. Unter Ketoprofen erreichten nach 6–12 Wochen 63 % der Patienten den primären Endpunkt und 48 % unter Placebo.

Weitere Hinweise zur Wirksamkeit von topischen NSAR bei Arthrose zeigt auch eine Metaanalyse aus dem Jahr 2018, die sowohl randomisierte, kontrollierte Studien als auch Beobachtungsstudien berücksichtigte [61]. Erfasst wurde hier als primärer Endpunkt die Schmerzlinderung, als sekundärer Endpunkt war die funktionelle Verbesserung in dem WOMAC-Score (Western Ontario and McMaster Universities Arthritis Index). Hier zeigte Diclofenac als Pflaster eine Effektstärke von -0,94, als Gel eine Effektstärke von -0,3. Placebo-kontrollierte Studien zu Ketoprofen ergab einen leichten Wirksamkeitsvorteil gegenüber Placebo. Die Auswertung zu Ibuprofen ergab ebenfalls einen Wirksamkeitsvorteil gegenüber Placebo wie auch die Studien zu Piroxicam.

Die Verträglichkeitsanalyse zur Langzeitanwendung bis 12 Wochen zeigte bei Diclofenac an unerwünschten Ereignissen 14 % gegenüber Placebo 7,8 %. Bei Ketoprofen lagen die unerwünschten Ereignisse bei 15 % im Vergleich zum Placebo bei 13 %. Bei allen NSAR wurden die lokalen unerwünschten Ereignisse als allgemein mild oder nur vorübergehend beschrieben [14]. Die registrierten systemischen unerwünschten Ereignisse wurden allgemein als mild beschrieben. Diese Ergebnisse stehen im Einklang zu der Metaanalyse von Zeng et al [61]. Es ergab sich kein signifikanter Unterschied zwischen NSAR und Placebo hinsichtlich lokaler Hautreaktionen, gastrointestinaler und kardiovaskulärer unerwünschter Ereignisse.

Im direkten Vergleich zwischen topischen und oralen NSAR zeigte eine explorative Analyse von 5 direkten Vergleichsstudien, welche ebenfalls in Zusammenhang des Cochrane-Reviews von Derry et al. [14] durchgeführt wurde, durchaus vergleichbare Therapieerfolge (topische Applikation 55 %, orale Applikation 54 %). Die Inzidenz systemischer unerwünschter Ereignisse war bei der topischen Applikation signifikant geringer (17 % versus 26 %). Diese Daten von nahezu 900 Patienten belegen eindeutig den Vorteil von topischer im Vergleich zu systemischer Applikation von NSAR.

Für die orale Anwendung mit NSAR gibt es unter oben dargestellten Zusammenhängen (Arthrosepatient, üblicherweise älter, mehrfach erkrankt mit großer Anzahl von Begleitmedikation). Diese führt aufgrund der Vorerkrankung oder der Begleitmedikation zu Kontraindikationen von NSAR.

Intraartikuläre Therapie

Insoweit NSAR nicht ausreichend wirksam sind, kontraindiziert sind oder das Risiko für unerwünschte Wirkungen erhöht sind, wird auch nach der AWMF-Gonarthroseleitlinie die Verwendung von Glucosamin oral, Hyaluronsäure intraartikulär oder Corticosteroiden intraartikulär empfohlen. Hierbei ist natürlich zu beachten, dass die Corticosteroide den raschesten Wirkeintritt haben und in der Regel für etwa 3 Monate wirksam sind [7, 36, 55]. Hyaluronsäure-Präparate haben eine längere Wirkdauer von 6–12 Monaten. Die Effektgröße hinsichtlich Schmerz in Metaanalysen liegt zwischen 0,34 (0,22–0,46) und 0,63 (0,36–0,88); die Effektgröße nach 4 Wochen ist besser als bei anderen pharmakologischen Behandlungen (Cox-2, NSAIDs, i.a. Corticoid und Paracetamol) [28]. Insgesamt gibt es mehr als 100 vermarktete HA-Produkte weltweit. Diese differieren erheblich hinsichtlich des Ursprungs (tierische oder bakterielle Fermentation), des Molekulargewichtes (von 0,7 bis 3 MDa), der molekularen Struktur (linear, cross-linked, mixed oder beides), der Methode der cross-link Konzentration (0,8–30 mg/ml), dem rheologischen Verhalten (Gel oder flüssig). Einige sind assoziiert mit anderen Molekülen (Mannitol, Sorbitol, Chondroitin Sulfat) mit unterschiedlichen Konzentrationen. Auf Grund dieser Rahmenbedingungen gibt es keine einzelne Klasse von HA-Produkten. Metaanalysen zeigen jedoch eine Überlegenheit von Hyaluronsäuren mit hohem Molekulargewicht [1, 4, 30, 58] (Abb. 3). Durch eine gute Wahl des Injektionszeitpunktes, Berücksichtigung der Kellgren Lawrence Situation, der Co-Medikation sowie der Co-Therapie wird man den Effekt von Hyaluronsäuren auch optimieren können [11]. Die orale Gabe von Glucosaminen oder vergleichbaren Nahrungsergänzungsmitteln wirkt sehr langsam und zeigen erst nach 4–8 Wochen einen eventuell positiven Effekt [5, 9, 40].

Während die oben genannten Therapieansätze rein als Schmerzreduktion anzusehen sind (SYSADOA), ergeben sich bei hochmolekularen Hyaluronsäuren durchaus auch Hinweise auf eine Beeinflussung der Knorpelstoffwechsel an sich (DMOAD). Insbesondere französische rheumatologische Arbeitsgruppen konnten zeigen, dass bei der intraartikulären Gabe von hochmolekularen Hyaluronsäuren eine Reduzierung des CTX-II nachweisbar ist und somit der Knorpelstoffwechsel an sich positiv beeinflusst wird [10, 26]. Der DMOAD Effekt wird in der Zukunft zunehmend interessanter werden [27]. Aus den o.g. Gründen sind Hyaluronsäuren zwischenzeitlich in vielen internationalen Arthrose-Leitlinien als positiv bewertet worden (Abb. 4).

Opioide

Die Diskussion um die Opioid-Therapie hat sich in den letzten Jahren insbesondere durch die Opioid-Epidemie in USA aufgrund der Zunahme unkritisch verschriebener Opiate für nicht Tumorschmerz verschärft. Es gab dort jedoch regionale Besonderheiten, indem sogenannte „Pain Doctors“ das stark wirksame Opioid Oxycodon in großem Umfang verschrieben hatten [16]. Erfreulicherweise hat sich eine vergleichbare Entwicklung in Deutschland nicht eingestellt. So konnte die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. in ihrer im Jahr 2020 aktualisierten Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen, nicht-tumorbedingten Schmerzen [16] festhalten, dass es in Deutschland aktuell keine Hinweise auf eine Opioidkrise gebe. Für Patienten mit chronischem Arthroseschmerz sind Opioide gemäß LONTS nur nach dem Versagen nicht-medikamentöser Therapie und/oder der Wirkungslosigkeit bzw. Kontraindikation anderer Analgetika und/oder einem nicht durchführbaren bzw. nicht gewünschten Gelenkersatz indiziert. Allgemein scheint jedoch gerade bei älteren Patienten eine Opioidgabe nur mit geringer analgetischer Wirkung und funktionaler Verbesserung bei gleichzeitig erhöhtem Nebenwirkungsrisiko beim Arthroseschmerz einherzugehen [44].

Andere Therapieansätze

Die häufig verwendete Strahlentherapie mit niedriger Dosis ist nicht besser als ein Placebo. Bisphosphonate können eventuell einen positiven Effekt auf Schmerzen beim Knochenödem haben, jedoch keinen positiven Effekt auf den Gelenkknorpel [6].

Neue Therapieansätze zur reinen schmerztherapeutischen Behandlung kann die Embolisation synovialer Gefäße bieten [33]. Klinische Studien erwiesen die Wirksamkeit von monoklonalen Antikörpern gegen den Nervenwachstumsfaktor (NGF) für Therapie von Arthroseschmerzen.

Im März 2021 wurde dem monoklonalen Antikörper „Tanezumab“ der Firma Pfizer durch die amerikanische FDA die Zulassung für die Behandlung von Arthroseschmerzen versagt, weil die Therapie in einzelnen Fällen mit einer rasch progredienten Arthroseentwicklung verbunden war. Ob das Konzept weiterverfolgt wird, bleibt derzeit unklar [50].

Fazit

Die oben dargestellten Zusammenhänge machen somit sehr deutlich, wie wichtig ein multimodales und interdisziplinäres Arthrose-Management ist. Dieses bietet deutlich mehr Potential als ein eindimensionaler therapeutischer Zugang. Ideal wäre ein Arthrose-Management-Konzept, bei dem Orthopäde/Unfallchirurg, Radiologe, Ökotrophologe, Physiotherapeut/Sporttherapeut, Orthopädietechniker sowie der behandelnde Hausarzt (wegen der oben dargestellten Problematik mit Co-Medikation und Co-Morbidität) sich um den jeweiligen Patienten bemühen und ein individualisiertes Konzept entwickeln.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jörg Jerosch

Wissenschaftsbüro

Grabenstraße 11

40667 Meerbusch

j_jerosch@hotmail.com

Fragen zum CME-Artikel

1. Welche Aussage zur Klassifikation nach Outerbridge ist richtig?

– Grad I: keine Knorpelschäden

– Grad II: abnormaler Knorpel mit einer Läsionstiefe < 50 % der Knorpeldicke

– Grad III: Läsionstiefe unter 50 %

– Grad IV: Läsionstiefe über 50 %

– Grad V: Knorpelglatze

2. Wann wurde die ICRS Hyaline Cartilage Lesion Classification System veröffentlicht?

– 1997

– 2003

– 2010

– 2015

– 2020

3. Die radiologische Klassifikation der Arthrose nach
Kellgren und Lawrence unterteilt wieviele Schweregrade?

– 2

– 3

– 4

– 5

– 6

4. Ein typisches klinisches
Zeichen bei einer Coxarthrose ist

– das Trendelenburg-Zeichen.

– das Lasegue-Zeichen.

– das C-Zeichen.

– das Kernig-Zeichen.

– das Steinmann-Zeichen.

5. Die primäre Bildgebung bei der Gonarthrose ist

– eine Zintigraphie.

– ein CT.

– ein MRI.

– Röntgen in 2 Ebenen im belasteten Zustand.

– Arthrographie.

6. Wieviele Patienten führen
im Rahmen des
Selbstmanagements eine Schmerztherapie durch?

– mehr als 90 %

– 70–80 %

– 50–70 %

– 40–50 %

– 10–20 %

7. Topische NSAR Anwendungen

– sind klinisch nicht effektiv.

– führen zu mehr lokalen Komplikationen.

– führen zu mehr systemischen Komplikationen.

– bieten eine gute Alternative zu systemischer Gabe von NSAR.

– sollten den Patienten nicht empfohlen werden.

8. Für die intraartikuläre
Therapie gilt:

– Kortison wirkt für 12 Monate.

– Niedrigmolekulare Hyaluronsäuren wirken am besten.

– Hochmolekulare Hyaluronsäuren wirken am besten.

– Kortison ist kontraindiziert.

– Hyaluronsäuren sind in den meisten Leitlinien nicht enthalten.

9. Für die Opioidgabe bei
Arthrose gilt:

– Gerade bei älteren Patienten scheint eine Opioidgabe nur mit geringer analgetischer Wirkung und funktionaler Verbesserung bei gleichzeitig erhöhtem Nebenwirkungsrisiko beim Arthroseschmerz einherzugehen.

– Diese ist generell bei der Arthrose kontraindiziert.

– führt zu einem deutlichen Funktionsgewinn.

– ist in Kombination mit NSAR besonders sinnvoll.

– ist besonders beim jungen Patienten sinnvoll.

10. Für andere Therapieansätze gilt:

– Strahlentherapie ist bei der Arthrose besonders sinnvoll.

– Die monoklonale Antikörperbehandlung hat eine Zulassung bei der FDA erhalten.

– Die Embolisation synovialer Gefäße bietet bei der Arthrose eine neue Therapieoption.

– Bisphosphonate haben einen positiven Effekt auf den Gelenkknorpel.

– Die Stoßwellentherapie hat bei der Arthrose deutliche Effekte.

Die Teilnahme an der CME-Fortbildung ist nur online möglich auf der Website www.online-oup.de

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