Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Korrektur von Achsabweichungen und Längendifferenzen der unteren Extremität im Wachstumsalter
Wachstumslenkung kompaktGuided growth in a nutshell

Christof Radler1, Gabriel T. Mindler1, Rudolf Ganger1

Zusammenfassung: Kindliche Achsabweichungen und Längendifferenzen an der unteren Extremität stellen häufige Vorstellungsgründe in der orthopädischen Praxis und an kinderorthopädischen Zentren dar. Dabei ist die Unterscheidung des physiologischen vom pathologischen Bereich entscheidend. Oftmals ist die Observanz und Beratung der Eltern vorrangig gegenüber operativen Schritten. Liegt eine behandlungsbedürftige Deformität vor, ist die Therapie mit minimalinvasiven, wachstumslenkenden Operationen eine elegante und von den Kindern gut akzeptierte Möglichkeit zur Korrektur. Dabei müssen einige Faktoren wie Grunderkrankung, Ausmaß der Fehlstellung oder Verkürzung, das richtige Alter sowie die verschiedenen möglichen Operationstechniken bedacht werden. Die wachstumslenkenden Operationen sind technisch vergleichsweise weniger anspruchsvoll, bedürfen aber einer korrekten Indikationsstellung sowie eines intensiven Follow-ups. Nach Abschluss des Wachstums oder bei ausgeprägten Fehlstellungen und Verkürzungen stehen invasivere, aber dennoch höchst effektive Operationstechniken zur Deformitätenkorrektur zur Verfügung. Dabei konnten in den letzten Jahren durch die Einführung moderner Fixateure und neuer, intramedullärer Verfahren die Ergebnisse deutlich verbessert werden.

Schlüsselwörter: Wachstumslenkung, Epiphysiodese, Beinlängendifferenz, Beinachse, Achsabweichung

Zitierweise
Radler C, Mindler GT, Ganger R: Korrektur von Achsabweichungen und Längendifferenzen der unteren Extremität im Wachstumsalter. OUP 2016; 7/8: 433–445 DOI 10.3238/oup.2016.0433–0445

Summary: Malalignment of the lower extremities and limb length discrepancy are frequent causes for presentation in the orthopedic office or pediatric orthopedic outpatient clinic. Differentiating physiologic deviations from pathologic deformities is of utter importance. Frequent observation and counseling of the parents is more important than surgical
interventions. If a deformity of shortening merits treatment guided growth is a very elegant and minimal invasive technique which is well accepted by the child. Various factors like the underlying pathology, the severity of shortening or malalignment, the age of the child and the different surgical
options must be considered. Surgical interventions for guided growth are technically relatively simple but need the right indication and frequent follow-up. After skeletal maturity or in the presence of severe deformities or shortening more invasive but highly effect surgical techniques for deformity correction and limb lengthening are available. In the last years the results of those techniques have been significantly improved due to the introduction of modern external fixators and new intramedullary lengthening devices.

Keywords: guided growth, epiphysiodesis, leg length
discrepancy, limb alignment, axial malalignment

Citation
Radler C, Mindler GT, Ganger R: Correction of axial malalignment and leg length discrepancy of the lower extremities during growth OUP 2016; 7/8: 433–445 DOI 10.3238/oup.2016.0433–0445

Einleitung

Achsabweichungen und Beinlängendifferenzen gehören neben der Hüftdysplasie und Fußfehlstellungen zu den klassischen Bereichen der Kinderorthopädie. Nicht nur, weil es sich hier im wahrsten Sinn des Worts um ein Geraderichten wie im Beispiel des orthopädischen Bäumchens von Nicolas Andry de Boisregard handelt, sondern auch, da diese beiden Probleme sehr häufig und meist schon mit freiem Auge zu beobachten sind.

So sehen wir uns als Orthopäden regelmäßig mit Eltern oder Großeltern konfrontiert, die uns ihre Kinder mit krummen Beinen – ganz gleich, ob X- oder O-Beine – präsentieren, oft viel am Gangbild und insgesamt an der Haltung des Nachwuchses auszusetzen haben und nur schwer davon zu überzeugen sind, dass all dies in verschiedenen Phasen des Wachstums durchaus als normal betrachtet werden kann. Umso wichtiger ist es, von den beiden Schenkeln der Gaußschen Normalverteilung Fehlstellungen und/oder Verkürzungen abzugrenzen, die eine tatsächliche pathologische Ursache haben und sich nicht von selbst korrigieren, sondern im Gegenteil an Schwere und Ausmaß zunehmen können.

Diese Differenzierung ist in der Praxis in vielen Fällen gar nicht so einfach und daher wird im Zweifelsfall oft zu unnötigen diagnostischen oder fraglichen therapeutischen Maßnahmen gegriffen. Immer wieder findet sich auch heute noch die Versorgung physiologischer Fehlstellungen mit Schienen, Orthesen und orthopädischen Schuhen.

Aber nicht nur die richtige Diagnose bzw. Differenzialdiagnose gestaltet sich oft schwierig, sondern auch die Vielfalt der Therapieoptionen und besonders der Therapiezeitpunkt sind oft schwer einzuschätzen. Gerade in den letzten 10–15 Jahren hat sich in der Therapie kindlicher Beinlängendifferenzen und Abweichungen sehr viel geändert, was insbesondere mit verbesserten Operationsmethoden und neuen minimalinvasiven Techniken zusammenhängt.

Diese Übersichtsarbeit fasst die wichtigsten Ursachen, die Diagnose einschließlich bildgebender Verfahren sowie die Therapiemöglichkeiten – mit besonderem Hinblick auf die Wachstumslenkung, aber auch darüber hinaus – zusammen.

Physiologisch
vs. pathologisch

Bei der Abgrenzung zwischen physiologisch und pathologisch sind die Beinlängendifferenz und die Achsabweichung gemeinsam, aber auch getrennt zu betrachten. Beinlängendifferenzen bis zu 1 cm können im Wachstum durchaus als physiologisch betrachtet werden und finden sich bei Kindern in bis zu etwa 30 % der Fälle. Dieser Wert muss als Durchschnitt aus Literatur und Erfahrung verstanden werden, da es hierzu nur wenig Literatur von niedriger Evidenz gibt [1, 2].

Ein besonderes Augenmaß ist auf die Differenzierung zwischen reeller und funktioneller Beinlängendifferenz zu legen. Bei einer reellen Beinlängendifferenz liegt eine strukturelle knöcherne Verkürzung des Beins vor, wobei in diesen Fällen natürlich auch der Fuß und etwaige Achsfehlstellungen berücksichtigt werden müssen.

Eine funktionelle Beinlängendifferenz kann ein Bein kürzer oder auch länger erscheinen lassen: Eine funktionelle Verkürzung kann zum einen bei einer Beugekontraktur (Streckdefizit) des Kniegelenks vorliegen, zum anderen bei einer Adduktionskontraktur der Hüfte. Ein Bein kann funktionell länger werden durch z.B. eine Spitzfußstellung oder eine Abduktionskontraktur der Hüfte. Auch eine Skoliose, besonders im lumbalen Bereich, kann über eine Verkippung des Beckens bei der Untersuchung eine Beinlängendifferenz vortäuschen. Diese funktionellen Beinlängendifferenzen können gut physiotherapeutisch bearbeitet und auch behoben werden, was selbstredend bei reellen anatomischen Verkürzungen nicht möglich ist.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10