Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Korrektur von Achsabweichungen und Längendifferenzen der unteren Extremität im Wachstumsalter
Wachstumslenkung kompaktGuided growth in a nutshell

Das Röntgenbild ist natürlich auch im Detail (Epiphysen, Metaphyse usw.) im Hinblick auf die oben genannten möglichen Pathologien, wie kongenitale Längsdefekte oder Syndrome, zu beurteilen. Liegt hier ein abklärungswürdiger Verdacht vor, ist es meist sinnvoll, auch Bilder der oberen Extremität und der Wirbelsäule durchführen zu lassen.

Wachstumslenkung:
Wo und wann?

Für die Therapie der Beinfehlstellung oder Beinverkürzung ist die Wachstumslenkung eine hervorragende minimalinvasive Methode. Sie erlaubt als Hemiepiphysiodese (einseitige Blockade der Wachstumsfuge) eine sehr exakte Korrektur von Achsabweichungen und als Epiphysiodese (Blockade der gesamten Wachstumsfuge) auch eine Korrektur bzw. zumindest Verringerung von Beinverkürzungen.

In beiden Fällen ist die korrigierende Kraft das Wachstum und folglich ist eine Korrektur auch nur über gesunde oder zumindest mehr oder weniger gesunde Fugen möglich. Sind Fugen durch z.B. Trauma oder Infekt verschlossen, können diese nicht mehr zu einer Korrektur herangezogen werden.

Bei der Hemiepiphysiodese wird eine Seite einer Wachstumsfuge blockiert, wodurch eine Achslenkung während des Wachstums möglich ist. Die Hemiepiphysiodese kann permanent durch einseitige Zerstörung der Wachstumsfuge durch Überbohren [19] oder Einsetzen eines Knochenspans [20] durchgeführt werden. Hierbei ist der Zeitpunkt dieser Maßnahme sehr kritisch, um nicht eine Über- oder Unterkorrektur zu erhalten. Aus diesem Grund wird die Hemiepiphysiodese heute als temporäre Maßnahme bevorzugt, bei der durch mehrere Klammern, eine Schraube oder eine Platte die Wachstumsfuge blockiert wird. Nach Entfernen dieser Implantate kann in der Regel ein weiteres normales Wachstum stattfinden.

Die Indikation zur Wachstumslenkung wird üblicherweise anhand des Ausmaßes der Fehlstellung gestellt. Eine vermehrte Varus- oder Valgus-Fehlstellung gilt als Risikofaktor bei der Entstehung bzw. Progression einer Kniegelenk-Osteoarthrose [21, 22], wobei das Ausmaß bzw. der Grenzwert nicht bekannt ist. Knieschmerzen trifft man in der Praxis jedoch durchaus oft bei jungen Erwachsenen mit ausgeprägter Fehlstellung an. Ein neuer, interessanter Zugang zur Fragestellung des Zusammenhangs zwischen Fehlstellung und dynamischer Gelenkbelastung wird durch die 3-D-Ganganalyse und die Untersuchung der Belastungsmomente am Kniegelenk ermöglicht, wobei derzeit noch keine definitiven Aussagen hierüber getroffen werden können [23].

Zur Indikationsstellung wird die mechanische Achsabweichung (MAD – Position der Mikulicz-Linie) herangezogen. Als relevante Fehlstellung bei Erwachsenen wurde eine MAD über 15 mm nach medial oder 10 mm nach lateral definiert [24]. Stevens und Mitarbeiter [25] teilten für die Indikationsstellung zur Wachstumslenkung das Kniegelenk mit einem Lineal in 3 Zonen ein. Hierbei wird die Kniemitte als Null bezeichnet und als Zone 3 der Bereich, der bereits außerhalb des Gelenks verläuft. Als Zone 1 und 2 werden jeweils die innere und die äußere Hälfte des medialen und lateralen Kompartments definiert. In den in dieser Arbeit dokumentierten Fällen wurde eine Wachstumslenkung bei Lage der mechanischen Achse in Zone 2 und 3 durchgeführt. Wir berücksichtigten zur Indikationsstellung in grenzwertigen Fällen zusätzlich die Ganganalyse, den BMI und den individuellen Leidensdruck.

Grundsätzlich kann bei idiopathischen Fehlstellungen (meist Valgus-, aber auch Varusfehlstellungen) die Korrektur eher am Ende des Wachstums durchgeführt werden, um noch eine eventuelle Spontankorrektur abzuwarten und Rezidive bei langem Restwachstum zu vermeiden. Entscheidend ist es natürlich, den Zeitpunkt nicht zu verpassen! Bei Mädchen wachsen die Beine üblicherweise bis zum 14. Lebensjahr, bei Jungen bis zum 16. Lebensjahr. Es sollte somit mit spätestens 12 bzw. 14 Jahren die Wachstumslenkung zur Achskorrektur erfolgen. Bei starken Fehlstellungen oder bei langsam wachsenden Fugen (Kleinwuchs, Stoffwechselstörung, Dysplasie) muss ein Eingriff jedoch entsprechend früher durchgeführt werden. Entscheidend dabei ist das Knochenalter, welches vom chronologischen Alter abweichen kann. Nicht selten zeigen sich bei einem 12-jährigen Mädchen die Wachstumsfugen fast verschlossen, was eine minimalinvasive Korrektur unmöglich macht. Es ist daher zu empfehlen, etwa 4 Jahre vor dem üblichen Wachstumsabschluss eine Bestimmung des Knochenalters (s.u.) durchzuführen.

Wenn die Indikation und der Zeitpunkt für den Eingriff festgesetzt wurden, muss auch entschieden werden, welche Fugen zu blockieren sind. Hier müssen der LDFA und der MPTA des Malalignementtests herangezogen werden. Wir empfehlen die Blockade jener Fugen, die eine Fehlstellung von mehr als 2–3° zeigen. Eine Abweichung von dieser Empfehlung gilt, wenn die Fehlstellung erst gegen Ende des Wachstums festgestellt wurde oder eine langsame Korrektur bei pathologischem Wachstum zu erwarten ist. Wenn dann über eine Blockierung nur einer Fuge (Femur oder Tibia) eventuell keine vollständige Korrektur mehr erreicht werden kann, so ist es auch zulässig, an beiden Fugen die Hemiepiphysiodese durchzuführen, so lange nicht auf mehr als maximal 2° Abweichung vom Normalwert überkorrigiert wird.

Wachstumslenkung:
Wie und womit?

Viele Jahre war die Hemiepiphysiodese mit Blountklammern, wie sie 1949 von Blount und Clarke [26] beschrieben wurde, im deutschsprachigen Raum weit verbreitet. Die rechteckigen Klammern wurden, die Wachstumsfuge überbrückend, in den Knochen eingeschlagen, wobei pro Fuge meist 3 Klammern zur Anwendung kamen. Das regelrechte Setzen der 3 Klammern war oft zeitaufwendig, insbesondere wenn die Epiphysiodese an mehreren Fugen durchgeführt wurde. Zusätzlich kam es immer wieder zur Lockerung einzelner Klammern und zum Herauswandern aus dem Knochen mit der Notwendigkeit der Nachpositionierung (Abb. 10).

Ein großer Fortschritt war die Einführung der 2-Loch-Platten-Schrauben-Systeme (Eight-Plate, Orthofix) durch Stevens [27] (Abb. 11). Durch die Platte und je eine Schraube über und unter der Fuge findet die Wachstumslenkung über einen Tension-band-Effekt statt. Derzeit sind unterschiedliche Implantate mit gleichem bzw. ähnlichem Wirkprinzip wie z.B. Eight-Plate (Orthofix), Pediplate (OrthoPediatrics) und andere am Markt erhältlich.

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