Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Korrektur von Achsabweichungen und Längendifferenzen der unteren Extremität im Wachstumsalter
Wachstumslenkung kompaktGuided growth in a nutshell

Bei der Wachstumsbremsung stehen uns wiederum temporäre und permanente Methoden zur Verfügung. Clark und Blount beschrieben bereits 1949 die Epiphysiodese durch laterale und mediale Klammern. Auch hierbei ergibt sich die Gefahr der Lockerung der Klammern, wobei bei einseitiger Lockerung aus der Epiphysiodese eine Hemiepiphysiodese werden kann mit der Gefahr der sekundären Fehlstellung. Ähnliches gilt für das ebenfalls in der Literatur beschriebene laterale und mediale Einsetzen von 2-Loch-Platten-Systemen [56]. Eine weitere temporäre Methode zur Wachstumsbremsung ist das Setzen von 2 gekreuzten Schrauben durch die Fuge [57]. Bei dieser Methode besteht die Gefahr der Recurvatumfehlstellung [58]. Zusätzlich sind der temporäre Charakter und das ungestörte und symmetrische Weiterwachsen nach Entfernung fraglich. Eine Renaissance von Klammern zur Wachstumsbremsung stellen neue Klammern dar, die besonders leicht einzubringen sind und durch ihr Design weniger Gefahr der Lockerung versprechen (RigidTack, Merete).

Permanente Epiphysiodesen wurden von Phemister bereits 1933 [20] und später von Bowen und Johnson (1984) [59] und auch Canale und Christian (1990) [19] beschrieben. Die Phemister-Technik ist operativ aufwendig mit der Entnahme eines Knochenblocks und Verdrehung und Wiedereinsetzen desselben. Die Epiphysiodese nach Canale beruht auf der bildwandlergezielten Zerstörung der Wachstumsfuge durch perkutanes Überbohren (Abb. 14).

Für uns stellt die Operation nach Canale die zuverlässigste Methode dar, die minimalinvasiv durchgeführt werden kann und keinen Zweiteingriff zur Metallentfernung benötigt. Bei dieser Operationstechnik verwenden wir kanülierte Bohrer über einen kleinen Zugang, üblicherweise von medial. Im Bildwandler erfolgt das Einbringen des Bohrdrahts exakt im Fugenverlauf. Es werden ein kleiner Hautschnitt und die Präparation an das Periost durchgeführt. Das Weichteilgewebe muss beim Einbringen der Bohrer geschützt werden. Der Bohrdraht wird an der Gegenseite mit einer groben Klemme fixiert und es erfolgt das stufenweise Aufbohren auf 11–13 mm, je nach Alter und Fuge. Wir verwenden hierfür kanülierte Bohrer des Kreuzbandinstrumentariums. Größte Vorsicht ist geboten, um nicht mit dem scharfen Bohrer ohne Führung durch den Bohrdraht nach dorsal oder ventral abzugleiten. Am Ende erfolgt noch das Ausschaben der Fuge mit dem scharfen Löffel und eine intensive Spülung und Entfernung des Bohrmehls. Postoperativ erfolgt eine Teilbelastung für 4 Wochen und Sportverbot für 6 Wochen.

Wachstumsbremsung:
Was sagt die Literatur?

Es gibt nur wenige Studien, die das Ergebnis der Wachstumsbremsung evaluieren, und auch die Komplikationen nach Canale sind kaum beschrieben. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass der unilaterale Zugang zur Ablation der Fuge bei der Operation nach Canale ausreichend ist und sich ein symmetrischer Wachstumsstop ergibt [60].

In einer weiteren Studie wurde die Operation nach Canale der Technik nach Phemister vorgezogen [61]. An Komplikationen sind in der Literatur die Epiphysenlösung, die intraartikuläre Perforation, die Achsabweichung, der Knochensporn an der Bohrstelle, Bewegungseinschränkungen und Infektionen beschrieben [58].

Fugenschluss: Was nun?

Ist das Zeitfenster für die Wachstumslenkung verpasst, so können mit modernen operativen Verfahren dennoch eine präzise Deformitätenkorrektur und ein Beinlängenausgleich erfolgen. Neben den bewährten Plattensystemen zur kniegelenknahen Umstellung hat besonders die Einführung sehr exakter, computergesteuerter Fixateure und intramedullärer Verlängerungsnägel (Fitbone, Wittenstein; Precice, Ellipse) die Ergebnisse verbessert und die Invasivität minimiert.

Mit dem Taylor Spatial Frame (Smith und Nephew) können Fehlstellungen in allen Ebenen simultan korrigiert werden (Abb. 15). Bei massiven Beinlängendifferenzen kann bereits ab dem 3. Lebensjahr ein Ausgleich begonnen werden.

Die Einführung kleiner Nageldurchmesser (bis zu 8,5 mm) bei den Precice-Verlängerungsnägeln erlaubt heutzutage eine interne Verlängerung über einen antegraden Femurzugang bereits ab etwa dem 10. Lebensjahr, weil dann durch eine Störung der Trochanterfuge keine relevante Veränderung der Anatomie oder Länge mehr zu erwarten ist (Abb. 16). Nach Wachstumsabschluss ist bei retrogradem Einbringen am Femur eine Beinverlängerung auch mit gleichzeitiger akuter Achskorrektur möglich (Abb. 17).

Natürlich sind diese Verfahren invasiver als die Wachstumslenkung. Bei der alleinigen Beinlängendifferenz steht mit der Nagelverlängerung über den antegraden Zugang ein Verfahren mit minimalinvasivem Charakter zur Verfügung, bei dem kein Gelenk eröffnet wird und das auch von den Patienten als sehr schonend wahrgenommen wird. Hierdurch hat sich die Indikation zu der Operation nach Canale mit doch fallweise deutlicher Restbeinlängendifferenz etwas relativiert. Bei größeren Differenzen an Femur und Tibia ist es eine elegante Möglichkeit, die Differenz über eine Operation nach Canale an der Tibia zu reduzieren und die Restdifferenz exakt und gut kontrollierbar mit einer intramedullären Oberschenkelverlängerung zu korrigieren. Auch eine Kombination aus Korrektur der Fehlstellung über Hemiepiphysiodese und spätere antegrade intramedulläre Verlängerung ist gut möglich.

Die Wachstumslenkung, insbesondere zur Achskorrektur, hat sich über viele Jahre bewährt und erlaubt eine minimalinvasive Korrektur, die auch von den Kindern gut akzeptiert wird und keine größeren schulischen und sportlichen Pausen aufzwingt. Besonders in den ersten Lebensjahren sind die Unterscheidung von pathologisch zu physiologisch und das Wissen, wie lange die Phase der aggressiven Observanz andauern darf, entscheidend. Obwohl die Operationen zur Wachstumslenkung technisch einfach sind, sind die richtige Indikationsstellung, das Erkennen von Begleitproblematiken und -pathologien und der richtige Zeitpunkt der Operation große Herausforderungen, die viel kinderorthopädisches Wissen und Erfahrung benötigen.

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