Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Korrektur von Achsabweichungen und Längendifferenzen der unteren Extremität im Wachstumsalter
Wachstumslenkung kompaktGuided growth in a nutshell

Bei Achsfehlstellungen sind die wichtigsten Faktoren zur Differenzialdiagnose die Symmetrie sowie das Ausmaß und die Richtung der Fehlstellung in Relation zum Alter des Patienten. Als Warnzeichen (Tab. 1) werden grundsätzlich Asymmetrien bei Achsfehlstellungen beschrieben. Hier ist jedoch darauf zu achten, dass eine milde, gerade wahrnehmbare Asymmetrie in ganz vielen Fällen vorliegt und lediglich stärkere Asymmetrien einer weiteren Abklärung würdig sind. Auch das Ausmaß spielt eine große Rolle: So sind zarte X- oder O-Beine durchaus als physiologisch zu betrachten; bei starken Fehlstellungen ist wiederum eine Pathologie radiologisch auszuschließen. Der wichtigste Faktor ist das Alter: Zu Gehbeginn zeigt sich meist eine O-Bein-Fehlstellung. Durch eine oft physiologisch verminderte Tibiatorsion werden die Kniegelenke beim Gehen nach außen gerichtet und zusammen mit dem ebenfalls physiologisch oft vorliegenden leichten Streckdefizit der Kniegelenke im Gangbild entsteht der Eindruck der massiven O-Bein-Fehlstellung (Abb. 1). Dies ist durch die Untersuchung auf dem Schoß der Mutter zu relativieren, da dann das Kniegelenk ganz durchgestreckt und das Bein so rotiert werden kann, dass die Kniescheibe nach vorne gerichtet ist. Bei dieser korrekten Ausrichtung, wie wir sie auch für die radiologische Untersuchung verwenden, erscheint die Fehlstellung oft deutlich geringer und wird dann leicht als physiologisch erkannt. Eine Fotodokumentation zur Verlaufskontrolle ist in diesem Fall empfehlenswert. Mit etwa 2–3 Jahren entwickelt sich bei vielen Kleinkindern eine X-Bein-Fehlstellung, die ebenfalls physiologisch ist und sich oft bis zum 6. Lebensjahr hält.

Genauso wie das Ausmaß dieser Fehlstellungen eine große Schwankungsbreite zeigt, haben sowohl der Zeitpunkt des Auftretens als auch derjenige der Rückbildung eine große Schwankungsbreite; somit sind die hier erwähnten Zeitangaben nur als Richtwerte zu betrachten.

Schmerzen spielen bei Fehlstellungen bei Kindern fast keine Rolle und sind als Warnsignal zu deuten. Lediglich extreme Fehlstellungen führen vor Wachstumsabschluss zu Schmerzen in den Gelenken. Bei Adoleszenten und besonders jungen Erwachsenen finden sich bei klinisch relevanter Beinlängendifferenz jedoch fallweise Schmerzen im Lendenwirbelsäulen- und Iliosakralbereich [1, 3].

Ursachen nicht idiopathischer

Achsabweichungen
und Beinverkürzungen

Es gibt eine Vielzahl von Pathologien, die Beinlängendifferenzen – oft kombiniert mit Fehlstellungen – verursachen können: Eine Verkürzung oder auch ein überschießendes Wachstum kann sich posttraumatisch nach Fraktur zeigen, je nachdem, ob eine Fuge geschädigt wurde (Verkürzung) oder eine Fraktur im diaphysären Bereich stattgefunden hat (Verlängerung) [4]. Postinfektiöse Verkürzungen finden wir nach Neugeborenensepsis oder septischen Arthritiden im Kleinkindes- oder Kindesalter. Dabei kann es zur postinfektiösen Zerstörung der Wachstumsfuge kommen mit oft massiven Verkürzungen und ausgeprägten Fehlstellungen (Abb. 2a, b).

Ein weiterer großer Bereich sind kongenitale Verkürzungen, wozu der kongenitale Femurdefekt, die Fibulahemimelie und die noch seltenere Tibiahemimelie zählen. Hierbei ist nicht nur der Knochen pathologisch verändert, sondern entsprechend dem betroffenen Entwicklungsfeld nach Opitz und Lewin [5] kommt es zu Veränderungen an den Bändern des Kniegelenks [6], dem lateralen Femurkondyl [7] und zur Dysplasie des Azetabulums, aber auch zu Strahlendefekten [8, 9]. Bei diesen Pathologien ist eine Wachstumslenkung der Fugen möglich, dauert aber aufgrund der Hypoplasie und des Minderwachstums der Fuge länger und ist mit Rezidiven behaftet [10].

Schwere Formen dieser kongenitalen Längsdefekte werden bereits vorgeburtlich im Ultraschall [11] oder kurz nach der Geburt diagnostiziert. Milde Formen dieser angeborenen Verkürzungen fallen oft zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr auf.

Eine weitere, sehr auffällige Ursache einer Beinverkürzung ist das Crus genu recurvatum valgum (postero-medial bowing) (Abb. 3a). Hier erscheint der Fuß ähnlich einem Hakenfuß hochgeklappt und der Fußrücken liegt an der Tibia an. Der Fuß ist dabei aber völlig unauffällig, es ist die Tibia, die hier im unteren Drittel eine massive Verbiegung nach posterior und medial zeigt. Eine deutliche Spontankorrektur zeigt sich in den ersten beiden Lebensjahren, wobei je nach Schweregrad eine leichte Achsabweichung und eine Beinlängendifferenz bis zu 6 cm bestehen bleiben können. Von dieser relativ gutartigen Verbiegung des Unterschenkels nach posterior und medial ist eine Verbiegung nach anterior und medial bei schwerer Fibulahemimelie (Abb. 3b) mit typischem Hautgrübchen an der Krümmung abzugrenzen, aber auch die Verbiegung nach anterior und lateral bei der sehr schwer zu therapierenden kongenitalen Tibiapseud arthrose (CPT) (Abb. 3c).

Bei den tumorösen Veränderungen führen besonders die Erkrankungen multiple kartilaginäre Exostosen und Enchondromatose zu Achsfehlstellungen [12]. Die multiplen kartilaginären Exostosen sind in der Regel ab dem 2.–3. Lebensjahr tastbar und führen in unterschiedlichem Ausmaß zu Fehlstellungen der unteren und auch der oberen Extremitäten. Manchmal ist die Gelenkbeweglichkeit durch große Exostosen mechanisch eingeschränkt. Die Exostosen wachsen im Bereich der Metaphysen meist zum Knochenzentrum hin. Die Enchondromatose ist durch radiologisch säulenartige Aufhellungen gekennzeichnet, die sich von der Wachstumsfuge in die Metaphyse und Diaphyse ziehen (Abb. 4). Eine epiphysäre Beteiligung ist selten. Je nach Verteilung wird ein Morbus Ollier bei primär einseitigem Befall und ein Maffucci-Syndrom bei primär einseitigem Befall mit zusätzlichen multiplen Weichteilhämangiomen beschrieben.

Bei den metabolischen Erkrankungen ist es besonders die Vitamin-D-resistente Rachitis, die sich durch schwere Fehlstellungen auszeichnet (Abb. 5). Selbst bei vollständiger Korrektur sind Rezidive besonders während des Wachstums zu erwarten [13, 14]. Osteodysplasien führen häufig zu Verkürzungen, aber auch zu Achsfehlstellungen, wobei hier der Befund – ähnlich wie bei den metabolischen Erkrankungen – meist relativ symmetrisch ist. Hierzu gehören z.B. die Achondroplasie, die Pseudochondroplasie sowie epi- und metaphysäre Dysplasien. Die meisten Skelettdysplasien sind so unterschiedlich, aber auch selten, dass eine individuelle Therapieplanung durchgeführt werden muss und kaum generelle Empfehlungen ausgesprochen werden können [15]. Außerdem können auch neurologische Störungen wie die Poliomyelitis oder eine spastische Hemiparese eine Beinlängendifferenz verursachen.

Klinische Untersuchung
und klinische Hinweise

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10