Übersichtsarbeiten - OUP 04/2019

Versorgung von Frakturen des distalen Humerus – im Alter wie beim jungen Patienten?

Matthias Lany, Matthias Mülke, Gero Knapp, Gabor Szalay, Christian Heiß

Zusammenfassung:

Distale Humerusfrakturen machen ca. 2 % aller Frakturen und ein Drittel der Humerusfrakturen aus. Sie treten überwiegend bei jungen Männern infolge eines Hochrasanztraumas und älteren Frauen durch ein Bagatelltraumata auf. Die Therapie ist dabei geprägt von einer hohen Rate an
Komplikationen. Wichtig ist dabei, beim Outcome den golden arc of motion mit einem
Bewegungsausmaß Extension/Flexion von 0–30–130° zu erreichen, um die Selbstständigkeit des Patienten zu bewahren. Aufgrund des hohen Risikos einer Gelenksteife zählt die offene Reposition und Retention mittels winkelstabiler Osteosynthesen als Goldstandard. Durch dieses Verfahren soll die postoperative Ruhigstellung möglichst kurzgehalten und eine frühfunktionelle Nachbehandlung ermöglicht werden. Bei komplexen Frakturen ermöglicht die totale Endoprothese als Alternative ein postoperatives hohes Maß an Bewegung sowie geringere Revisionsraten. Ein ungelöstes Problem hierbei ist jedoch weiterhin die lebenslange Limitation der Belastung. Konservative Therapien werden mittlerweile insbesondere bei älteren Patienten vermehrt diskutiert, da hier die postoperativen Risiken vermieden und häufig zufriedenstellende Ergebnisse erzielt werden können.

Schlüsselwörter:
distale Humerusfraktur, Alterstraumatologie, Therapie, Osteosynthese, Endoprothese, Komplikationen

Zitierweise:
Lany M, Mülke M, Knapp G, Szalay G, Heiß C: Versorgung von Frakturen des distalen Humerus – im Alter wie beim jungen Patienten? OUP 2019; 8: 188–197

DOI 10.3238/oup.2019.0188–0197

Summary: Distal humerus fractures account for approximately 2 % of all fractures and one third of all humerus fractures. They occur predominantly in young men as a result of high-energy trauma and in older women as a result of minor trauma. The therapy is characterized by a high rate of complications. It is important to achieve the „Golden Arc of motion“ with a range of motion extension / flexion of 0–30–130 in order to preserve the patient‘s independence. Due to the high risk of joint stiffness, open reduction and retention by means of angular stable osteosynthesis is the gold standard. This procedure is intended to keep postoperative immobilization as short as possible and enable early functional follow-up treatment. In the case of complex fractures, the total endoprosthesis as an alternative enables a high degree of postoperative movement and lower revision rates. An unsolved problem, however, is the lifelong limitation of the load. Conservative therapies are increasingly being discussed, especially among older patients, as postoperative risks can be avoided and satisfactory results are often achieved.

Keywords: distal humerus fracture, traumatology of elderly patients, therapy, osteosynthesis, endoprosthesis, complications

Citation: Lany M, Mülke M, Knapp G, Szalay G, Heiß C: Treatment of fractures of the distal humerus – in elderly as in adult patients? OUP 2019; 8: OUP 2019; 8: 188–197 DOI 10.3238/oup.2019.0188–0197

Für alle Autoren: Klinik und Poliklinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Operative Notaufnahme, Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Gießen

Epidemiologie

Mit einem Anteil von ca. 2 % aller Frakturen im Erwachsenenalter stellt die distale Humerusfraktur eine seltene knöcherne Verletzung dar [38]. Dies entspricht einer Inzidenz von 5,7/100.000 Einwohnern pro Jahr [43]. Statistisch zeigen sich 2 Häufigkeitsgipfel. Zunächst bei jungen Patienten im Alter von 12–19 Jahren und dann wieder bei den über 80-jährigen Patienten [38]. Aufgrund der demografischen Entwicklung ist jedoch mit einem Anstieg der Frakturinzidenz bei älteren Patienten zu rechnen. Eine epidemiologische Studie zeigte einen Anstieg der Frakturinzidenz bei Frauen über 60 Jahren in der finnischen Bevölkerung von 12/10.000 Einwohnern im Jahr 1970 auf 28/10.000 Einwohnern im Jahr 1995. Setzt sich dieser Trend fort, ist mit einer Verdreifachung der Inzidenz für das Jahr 2030 zu rechnen. Mit einem noch schnelleren Anstieg ist bei über 80-jährigen Patienten zu rechnen [38]. Charissoux et al. konnten in Kanada zwischen 2002 und 2005 eine Inzidenz von 54/100.000 bei Menschen über 80 Jahren ermitteln. Dies war 14-mal höher als bei Menschen zwischen 18 und 29 Jahren mit 4/100.000 Einwohnern pro Jahr [41]. Die Daten zeigen, das distale Humerusfrakturen im Allgemeinen bei älteren Menschen > 65 Jahre auftreten und mit fortschreitendem Alter zunehmen. Dieser Anstieg wird u.a. dadurch begründet, dass sich ältere Patienten zunehmend länger eigenständig versorgen und sich aufgrund der relativen physischen Fitness auch im fortgeschrittenen Alter aktiv an Freizeit- und Aktivitäten des täglichen Lebens beteiligen [6]. Mit steigender Aktivität steigt auch das Risiko für Stürze und somit die Frakturgefahr. 2 weitere Faktoren werden zudem für die Zunahme der Inzidenz verantwortlich gemacht. Der Pflegemangel führt dazu, dass sich eigentlich hilfebedürftige Patienten selbstständig versorgen und somit häusliche Unfälle wahrscheinlicher werden. Ein zusätzliches Problem stellt weiterhin die unzureichende Diagnostik und Therapie der Osteoporose dar [31], wobei die schlechte Knochenqualität das Auftreten von Frakturen zusätzlich begünstigt.

Bei den jungen Patienten zählen weiterhin hochenergetische Traumata bei Sport- oder Verkehrsunfällen als Hauptursache für distale Humerusfrakturen [38].

Einteilung/Klassifikation

Distale Humerusfrakturen kann man nach der international gültigen Klassifikation der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO) bzw. Orthopaedic Trauma Association (OTA) einteilen. Dabei werden 3 Typen A–C nach der Lokalisation (A: extraartikuläre Frakturen, B: partielle intraartikuläre Frakturen und C: vollständige intraartikuläre Frakturen) mit jeweils 3 Schweregraden unterschieden. Die Einteilung/Klassifikation erleichtert die Wahl der Therapie, ein Einschätzen der Prognose und ermöglicht die klare Verständigung unter den behandelnden Kollegen (Tab. 1).

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