Übersichtsarbeiten - OUP 04/2019

Heterotope Ossifikationen nach gelenknahen Frakturen
Klinische Bedeutung, aktueller Stand und Ausblick der Therapie

Fabian Hemm, Lydia Anastasopoulou, Ulrich Thormann, Christian Heiß, Markus Rupp

Zusammenfassung:

Das Phänomen der heterotopen Ossifikationen stellt eine relevante Komplikation vor allem
traumatischer Erkrankungen infolge unterschiedlicher Unfallmechanismen dar. Die klinische
Manifestation kann zu verschiedenen Komplikationen bis hin zum vollständigen Verlust des
Bewegungsumfangs betroffener Gelenke führen, wodurch entsprechende Nachbehandlungen
erforderlich werden. Somit können der Heilungs- und Rehabilitationsprozess verzögert und das
langfristige Outcome der zumeist schwerverletzten Patienten zusätzlich beeinträchtigt werden.
Aktuell beruhen die Therapieoptionen heterotoper Ossifikationen vor allem auf chirurgischen
Interventionen und wenigen prophylaktischen Maßnahmen. Die zunehmende Untersuchung der zugrunde liegenden zellulären und molekularen Mechanismen ermöglicht die Entwicklung
immer gezielterer und nebenwirkungsärmerer Therapeutika.

Schlüsselwörter:
heterotope Ossifikationen, Trauma, Pathophysiologie, Komplikationen, Prophylaxe, Therapie

Zitierweise:
Hemm F, Anastasopoulou L, Thormann U, Heiß C, Rupp M: Heterotope Ossifikationen nach gelenknahen Frakturen. Klinische Bedeutung, aktueller Stand und Ausblick der Therapie.
OUP 2019; 8: 220–228
DOI 10.3238/oup.2019.0220–0228

Summary: The phenomenon of heterotopic ossifications is a major clinical complication mainly following
traumatic events of various mechanisms. Among several clinical symptoms heterotopic ossifications may cause progressive loss of function until complete ankylosis of the affected joints and require specific therapies. This may complicate the further process of healing and rehabilitation as well as decreasing the long-term functional outcome of predominant severely injured patients. Current therapies consist in surgical resection and few
prophylactic procedures. The ongoing research reveals further insights regarding cellular and molecular
processes and offers approaches for upcoming specific therapy options.

Keywords: heterotopic ossifications, trauma, pathophysiology, complications, prophylaxis, therapy

Citation: Hemm F, Anastasopoulou L, Thormann U, Heiß C, Rupp M: Heterotopic ossifications in context of periarticular fractures. Clinical relevance, current therapy procedures and upcoming options.
OUP 2019; 8: 220–228 DOI 10.3238/oup.2019.0220–0228

Für alle Autoren: Klinik und Poliklinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Gießen

Einleitung

Die benigne Neubildung von Knochengewebe außerhalb des physiologischen Skelettsystems wird als heterotope Ossifikation bezeichnet. Zumeist posttraumatisch, aber auch aufgrund genetischer Prädisposition entwickeln sich reife knöcherne Strukturen im Weichteilgewebe, in dem unter physiologischen Umständen kein Knochen vorliegt. Zumeist davon betroffen sind Gewebe mit einem hohen Anteil an Bindegewebe, wie z.B. Gelenkkapseln, Muskeln, Bänder oder Sehnen. Klinisch manifestieren sich heterotope Ossifikationen vor allem durch Schmerzen, können aber auch zu Bewegungseinschränkungen, Nervenschädigungen oder Wundheilungsstörungen führen. Die Diagnostik erfolgt heutzutage vor allem durch konventionelle Bildgebung, womit heterotope Ossifikationen allerdings erst nach einigen Wochen dargestellt werden können. Daher werden zunehmend sensitivere Verfahren entwickelt, um heterotope Ossifikationen früher diagnostizieren zu können. Damit wird das Ziel verfolgt, eine entsprechende Therapie rechtzeitig einleiten zu können, seltener operativ intervenieren zu müssen und letztlich das Outcome der Patienten zu optimieren.

Die zugrunde liegende pathophysiologische Theorie hinter den heterotopen Ossifikationen beschreibt, dass unter bestimmten Bedingungen im Bindegewebe liegende mesenchymale Stammzellen zur Differenzierung in Richtung osteoproliferativer Zellpopulationen veranlasst werden. Die verantwortlichen zellulären und molekularen Prozesse sind Gegenstand intensiver Grundlagenforschung und bieten eine vielversprechende Perspektive zur Entwicklung zielgerichteter Medikamente.

Die Erstbeschreibung heterotoper Ossifikationen erfolgte anhand von Paraplegikern, die im Ersten Weltkrieg Rückenmarksverletzungen erlitten hatten und im Verlauf knochen- und gelenknahe Ossifikationen entwickelten, die schließlich bis zur Gelenkversteifung führten [15]. Seit dieser Erstbeschreibung sind zahlreiche Publikationen veröffentlicht worden, in denen das Auftreten heterotoper Ossifikationen infolge unterschiedlicher Ursachen und an verschiedensten Körperstellen sowie die zugehörigen individuellen Therapieverfahren beschrieben wurden. Zunehmend wurden vor allem Tiermodelle zur Untersuchung heterotoper Ossifikationen und deren molekularen Grundlagen entwickelt. Der vorliegende Review-Artikel gibt einen Überblick über die klinische Relevanz, Pathophysiologie, Diagnostik und aktuelle sowie zu erforschende Therapieoptionen heterotoper Ossifikationen.

Ätiologie, Epidemiologie und Risikofaktoren

Die multifaktorielle Ätiologie der heterotopen Ossifikationen kann in 3 Gruppen eingeteilt werden:

  • 1. traumatisch,
  • 2. neurologisch,
  • 3. genetisch.

Unter traumatischen Ursachen heterotoper Ossifikationen werden verschiedenste Gewebeverletzungen zusammengefasst. Dazu gehören vor allem gelenknahe Frakturen des knöchernen Bewegungsapparats. Führend sind insbesondere heterotope Ossifikationen infolge von Frakturen des Acetabulums, wobei ohne postoperative Prophylaxe eine Inzidenz von bis zu 90 % zu beobachten ist [27]. Nach Femurfrakturen werden bei etwa 52 % und nach Unterarmfrakturen bei ca. 20 % der Betroffenen heterotope Ossifikationen festgestellt [16]. Heutzutage werden heterotope Ossifikationen bei Kriegsversehrten mit Amputationsverletzungen, überwiegend durch Explosionsverletzungen nach Kontakt mit Sprengfallen, sogar in bis zu 63 % der Fälle beobachtet [34]. Aber auch nach Gelenkluxationen, Sehnenrupturen oder iatrogener Traumatisierung durch größere, teils elektive Gelenkoperationen werden heterotope Ossifikationen als regelmäßige Komplikationen beobachtet. So werden z.B. nach endoprothetischer Versorgung von Hüftgelenken heterotope Ossifikationen bei 16–53 % der behandelten Patienten beschrieben [6]. Andererseits können auch infolge von Verbrennungen ohne direkte Knochenbeteiligung heterotope Ossifikationen entstehen, bei schweren Verbrennungen sogar in bis zu 60 % der Fälle [32]. Weiterhin werden heterotope Ossifikationen auch als Komplikation regelmäßiger muskulärer Überbeanspruchung im Sinne von rezidivierenden Mikrotraumatisierungen vor allem bei Leistungssportlern beobachtet. Als Risikofaktoren für posttraumatische heterotope Ossifikationen zählen u.a. komplizierte Frakturen und Begleitverletzungen, wie z.B. Abdominal-, Thorax- oder Schädel-Hirn-Traumata sowie ein erhöhter Schweregrad der Verletzungen, der anhand des Injury Severity Score (ISS) klassifiziert wird. Ebenso werden zusätzliche Gewebetraumatisierungen durch ausbleibende Immobilisation oder wiederholte Repositionsversuche sowie durch verzögerte chirurgische Versorgung von Frakturen als prädisponierend beschrieben [27, 28, 34].

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