Übersichtsarbeiten - OUP 04/2019

Heterotope Ossifikationen nach gelenknahen Frakturen
Klinische Bedeutung, aktueller Stand und Ausblick der Therapie

Die neurologisch bedingten heterotopen Ossifikationen treten vor allem im weiteren Behandlungsverlauf nach schweren Verletzungen des ZNS auf und betreffen etwa 11–20 % der Patienten [16]. Als verletzungsspezifische prädisponierende Risikofaktoren wurden z.B. die vollständige Durchtrennung des Rückenmarks, das Ausmaß der Hirnschädigung mit einem häufigeren Auftreten heterotoper Ossifikationen nach diffusem axonalen Hirnschaden als nach fokalen Läsionen oder die Entwicklung einer Spastik im Verlauf identifiziert [12, 22]. Auch wenn Patienten aufgrund einer isolierten Verletzung initial zunächst durch neurochirurgische Kollegen behandelt werden, können diese im weiteren Verlauf orthopädisch-unfallchirurgische Komplikationen in Form von heterotopen Ossifikationen entwickeln und einer entsprechenden Mitversorgung bedürfen.

Die Fibrodysplasia ossificans progressiva (FOP) beruht auf einer aktivierenden Mutation des ACVR1/ ALK2-Gens, das für einen Bone-morphogenetic-protein(BMP)-Typ-I-Rezeptor kodiert. Diese hereditäre Erkrankung wird autosomal dominant mit voller Penetranz vererbt und gilt als Beispiel genetisch bedingter heterotoper Ossifikationen. Klinisch imponieren zunächst Malformationen der Großzehen. Allerdings können unter dieser genetischen Prädisposition bereits kleinste Verletzungen, wie z.B. Prellungen oder intramuskuläre Injektionen, aber auch einfache Virusinfekte zur Ausbildung heterotoper Ossifikationen am ganzen Bewegungsapparat führen, die langfristig die Beweglichkeit der Patienten massiv einschränken, sie frühzeitig
in den Rollstuhl zwingen und vor allem durch eingeschränkte Beweglichkeit des Thorax die Lebenserwartung der Patienten auf durchschnittlich 40 Jahre limitieren.

Als generelle Risikofaktoren für heterotope Ossifikationen wurden das männliche Geschlecht sowie Vorerkrankungen mit verstärkter knöcherner Metaplasie, wie z.B. ankylosierende Spondylitis (Morbus Bechterew) oder diffuse idiopathische Skeletthyperostose (DISH, Morbus Forestier), beschrieben [28, 29]. Insbesondere bei intensivpflichtigen Patienten sind ein prolongiertes Koma und maschinelle Beatmung als Risikofaktoren zu berücksichtigen [29]. Im weiteren Behandlungsverlauf stellen sich eine längere Immobilisation [17] sowie Infektionen der Lungen oder Harnwege als nachteilig heraus [12].

Pathophysiologie

Während die verschiedenen Ursachen und Risikofaktoren heterotoper Ossifikationen bereits vielfältig analysiert wurden, bietet die Untersuchung der pathophysiologischen Grundlagen auf zellulärer und molekularer Ebene noch umfangreiches Potenzial und bildet den Ausgangspunkt zur Entwicklung spezifischer Therapieoptionen. Dabei sind die 3 wesentlichen Voraussetzungen zur Entstehung heterotoper Ossifikationen bereits seit Längerem bekannt [9]:

  • 1. Anwesenheit von mesenchymalen Stammzellen,
  • 2. Anwesenheit von osteoinduktiven Faktoren,
  • 3. Osteogenese fördernde Umgebungsbedingungen.

Unter diesen Bedingungen können mesenchymale Stammzellen zu Osteochondroprogenitorzellen und im Verlauf zu Chondrozyten sowie Osteoblasten differenzieren, die schließlich durch enchondrale Osteogenese den Aufbau heterotoper Ossifikationen einleiten [26]. Die Differenzierung der mesenchymalen Stammzellen beginnt mit 16 Stunden nach dem entsprechenden Trauma bereits sehr frühzeitig und zeigt ihren Peak nach etwa 36–48 Stunden [27].

Mesenchymale Stammzellen

Die pluripotenten mesenchymalen Stammzellen kommen in verschiedenen Gewebearten vor und zeigen ein erhebliches Proliferations- und Differenzierungspotenzial. Unter physiologischen Bedingungen können sie, verschiedenen Zelllinien folgend, differenzieren und letztlich zu funktionsfähigen Zellen heranreifen. Daher dienen sie vor allem zur lokalen Regeneration von z.B. Muskeln, Sehnen, Bändern, Fettgewebe, Knorpel oder eben Knochen. Allerdings können aus mesenchymalen Stammzellen unter bestimmten Bedingungen auch andere Zellarten entstehen als ursprünglich vorgesehen waren [39]. Daher stellen sie die zelluläre Grundlage zur Entstehung heterotoper Ossifikationen dar. Den Gradienten komplexer Signalkaskaden (Wachstumshormone und Zytokine im Rahmen der lokalen Entzündungsreaktion) folgend, wandern die mesenchymalen Stammzellen in das frakturumgebende Gewebe ein [16].

Osteoinduktive Faktoren

Durch ein komplexes System aus interagierenden, lokalen sowie systemischen Faktoren werden die Bewegung und die Differenzierung der mesenchymalen Stammzellen koordiniert. Die zugrunde liegenden Zusammenhänge sind bisher allerdings nur in ihren Ansätzen erforscht. Beispiele für entscheidende Zytokine sind die sogenannten Bone Morphogenetic Proteins (BMPs), die eine Differenzierung der mesenchymalen Stammzellen in Richtung osteoproliferativer Zellen induzieren [38]. Neben in vitro-Versuchen konnten aber auch bereits Erkenntnisse anhand von Patienten gewonnen werden. So wurde die systemische Freisetzung verschiedener Wachstumsfaktoren, wie z.B. Prolaktin, Basic Fibroblast Growth Factor oder Insulin-like Growth Factor Type-1, infolge eines Schädel-Hirn-Traumas beobachtet und bereits in Zusammenhang mit der Entstehung heterotoper Ossifikationen gebracht [29].

Osteogenese fördernde
Umgebungsbedingungen

Wie bereits ältere Studien gezeigt haben, hängt die Differenzierung der mesenchymalen Stammzellen ebenfalls von den vorherrschenden Umgebungsbedingungen ab [38]. Der posttraumatischen Entzündungsreaktion wird vor allem in der Frühphase der Entstehung heterotoper Ossifikationen eine wesentliche Bedeutung beigemessen, sodass diese bereits heute als Angriffspunkt prophylaktischer Maßnahmen mit z.B. nicht steroidalen Antirheumatika adressiert wird [14]. Ebenso scheinen hypoxische Umgebungsbedingungen, wie sie auch im Rahmen einer Entzündung auftreten, die Proliferation und Differenzierung mesenchymaler Stammzellen in Richtung osteoproliferativer Zellpopulationen zu unterstützen [37]. In diesem Kontext wurde bereits der Hypoxie-induzierte Faktor 1 ? (HIF1?) als therapeutischer Ansatz identifiziert. Weiterhin scheint auch der lokale pH-Wert von Bedeutung zu sein. So wird die respiratorische Alkalose bei maschinell beatmeten Patienten mit einem erhöhten Risiko für heterotope Ossifikationen assoziiert, da es im alkalischen Milieu zu einer gesteigerten Ausfällung von Calcium- und Phosphatsalzen kommt [29].

Enchondrale Osteogenese

Die wesentliche physiologische Bedeutung der enchondralen Osteogenese besteht in der Entwicklung der langen Röhrenknochen während der Embryogenese. Zusammenfassend wird dabei zunächst durch Chondrozyten ein vorläufiges Grundgerüst aus hyalinem Knorpelgewebe erstellt, das zum Zweck der eigentlichen Osteogenese schrittweise durch Osteoklasten resorbiert wird, während Osteoblasten gleichzeitig die knöcherne Struktur ergänzen. Im Gegensatz zur desmalen Osteogenese, wie z.B. bei der Kallusbildung, erfolgt die enchondrale Osteogenese üblicherweise im mechanisch weniger stabilen, die Fraktur umgebenden Gewebe und stellt dabei in der Regel keinen Kontakt zum Periost her [16].

Klinische Symptomatik

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