Übersichtsarbeiten - OUP 04/2019

Heterotope Ossifikationen nach gelenknahen Frakturen
Klinische Bedeutung, aktueller Stand und Ausblick der Therapie

Die Bisphosphonate gelten als erste therapeutisch verfügbare Medikamentengruppe, die unmittelbar in den Entstehungsprozess heterotoper Ossifikationen eingreifen [13]. Dabei induzieren sie einerseits Apoptose in den Osteoklasten und verhindern andererseits die Aggregation von Calcium-Hydroxylapatit-Kristallen, hemmen dadurch das Wachstum von heterotopen Ossifikationen bzw. die Mineralisierung des Osteoids und können daher noch eingesetzt werden, wenn die Entstehung heterotoper Ossifikationen bereits begonnen hat [13, 16]. Dementsprechend können Bisphosphonate diesen Prozess allerdings nur so lange aufhalten, wie sie auch eingenommen werden. Werden sie zu früh abgesetzt, schreitet das Wachstum der heterotopen Ossifikationen weiter voran. Daher werden Bisphosphonate in Abhängigkeit von der Ausprägung bereits vorliegender heterotoper Ossifikationen für mindestens 6 Monate eingenommen [6].

Strahlentherapie

Ebenso wie die NSAR ist auch die gezielte Strahlentherapie der betroffenen Region in der Lage, heterotope Ossifikationen sowohl nach dem ursächlichen Trauma als auch Rezidive nach chirurgischer Entfernung zu vermeiden. Im Gegensatz zur medikamentösen Prophylaxe ist die Strahlentherapie allerdings nur sinnvoll anwendbar, wenn die potenzielle Lokalisation heterotoper Ossifikationen mit hoher Wahrscheinlichkeit abzusehen ist, wie z.B. nach einer Fraktur oder der Resektion heterotoper Ossifikationen. Die Anwendung zur primären Prophylaxe bei isolierten Neurotraumata oder genetischer Erkrankung erscheint dagegen wenig zielführend. Ähnlich wie NSAR ist eine Bestrahlung auch vor allem prophylaktisch wirksam. Eine Größenreduktion bereits ausgebildeter heterotoper Ossifikationen ist bisher nicht möglich. Allerdings kann sie supportiv zur Schmerztherapie bei therapierefraktären Schmerzen aufgrund fortgeschrittener heterotoper Ossifikationen angewendet werden [24].

Die prophylaktische Bestrahlung der betroffenen Region kann in einem Zeitfenster von einem Tag präoperativ bis zum 4. Tag postoperativ erfolgen. Nachdem zunächst Konzepte mit mehrtägiger Bestrahlung angewendet wurden, kommen heute vor allem präoperative Einmalbestrahlungen zum Einsatz [25]. In klinischen Studien konnte kein signifikanter Unterschied in der prophylaktischen Wirksamkeit zwischen einer Einmalbestrahlung oder der Einnahme von Indometacin nachgewiesen werden [27]. Beide Verfahren gelten als sicher und effektiv, allerdings ist die Strahlentherapie deutlich kostenintensiver.

Chirurgische Intervention

Die chirurgische Resektion stellt bis heute die einzige kurative Therapieoption bei ausgereiften, symptomatischen heterotopen Ossifikationen dar. Das Therapieziel besteht in der Schmerzreduktion und funktionellem Zugewinn des Patienten durch Steigerung bzw. Wiederherstellung des Bewegungsumfangs oder zumindest die Positionierung des betroffenen Gelenks in einer funktionell vorteilhaften Stellung. Allerdings gestalten sich operative Eingriffe zur Entfernung heterotoper Ossifikationen oftmals sehr kompliziert, aufgrund der eingeschränkten Gelenkbeweglichkeit, Kapsel- und Muskelkontrakturen oder veränderten anato mischen Lagebeziehungen und Vernarbungen nach vorangegangenen Operationen. Ebenso sind Operationen in diesem Kontext von einer hohen Komplikationsrate begleitet, z.B. durch Wundheilungsstörungen, Verletzung von beteiligten Leitungsbahnen oder Frakturen, besonders bei bereits durch Immobilisation osteoporotisch verändertem Knochen. Zusätzlich stellt jede Operation zur Entfernung heterotoper Ossifikation ihrerseits einen Auslöser zur Entstehung weiterer heterotoper Ossifikationen dar, sodass ein hohes Rezidivrisiko besteht [2]. Um dieses Rezidivrisiko zu minimieren, wurde lange Zeit abgewartet, bis keine Progredienz im Röntgen zu beobachten war und normwertige Befunde der Skelettszintigrafie sowie der alkalischen Phosphatase als Hinweis auf das Erreichen eines Ruhezustands vorlagen [20]. Dementsprechend wurde eine operative Resektion heterotoper Ossifikationen frühestens 6 Monate nach einem Trauma bzw. Operation, 12 Monate nach einer Rückenmarksverletzung oder 18 Monate nach einem Schädel-Hirn-Trauma empfohlen [20]. Inzwischen ist man von dieser restriktiven Haltung abgekommen, da in Studien kein signifikanter Unterschied zwischen einer verzögerten oder frühzeitigen Intervention gezeigt werden konnte [16]. Daher wird heutzutage die OP-Indikation primär auf Grundlage der klinischen Symptomatik bzw. neurologischen Rehabilitation des Patienten unter Berücksichtigung des radiologischen Ausmaßes der heterotopen Ossifikationen gestellt. Wesentliche Kriterien sind dabei Schmerzen und Bewegungseinschränkungen. Zudem sollten nach Möglichkeit präoperativ keine Schwellung, möglichst wenig Schmerzen und ein intakter Hautmantel vorliegen. Die OP-Planung bei polytraumatisierten Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma oder Verletzung des Rückenmarks erfordert die Berücksichtigung des neurologischen Status. Denn Patienten mit ausgeprägten kognitiven und/oder physischen Einschränkungen profitieren weniger von einer operativen Intervention bei gleichzeitig höherer Rezidivrate als Patienten mit präoperativ guter neuromuskulärer Kontrolle [20, 29]. Andererseits sollte mit einer Operation auch nicht länger als 2 Jahre gewartet werden, um Komplikationen wie intraartikuläre Ankylose, Muskelkontrakturen oder Frakturen des osteoporotischen Knochens zu vermeiden [21]. Als bester Prädiktor des funktionellen Outcomes gilt der präoperative Bewegungsumfang [21]. Patienten mit einer präoperativen Restbeweglichkeit erzielen in der Regel einen größeren Zugewinn des Bewegungsumfangs als Patienten mit einer vollständigen Ankylose. Postoperativ ist eine Prophylaxe z.B. mit Indometacin oder Bestrahlung, ggf. auch in Kombination, empfehlenswert. Ebenso hilft die kontinuierliche passive Bewegung, in physiotherapeutischer Begleitung postoperativ den bestmöglichen Bewegungsumfang zu erzielen.

Zusammengefasst vereinfacht eine frühe Intervention mit geeigneter Prophylaxe die Operation, vermeidet Rezidive, verkürzt den Heilungs- und Rehabilitationsprozess, verbessert das funktionelle Outcome und reduziert die Behandlungskosten.

Zukünftige
Therapieoptionen

Die Anforderungen an zukünftige Medikamente zur Behandlung heterotoper Ossifikationen umfassen vor allem eine spezifische Wirkung auf den Entstehungsprozess, um Nebenwirkungen wie eine verzögerte Frakturheilung zu reduzieren. Allerdings setzen diese prophylaktischen Ansätze stets eine frühestmögliche Diagnosestellung voraus, weshalb auch die diagnostischen Verfahren weiterentwickelt werden müssen, um letztendlich die Therapie zu optimieren. Für den Fall der verzögerten Diagnosestellung sind ergänzende Therapeutika zur Behandlung bereits herangereifter heterotoper Ossifikationen wünschenswert, sind aber vorerst nicht zu erwarten.

Wie zuvor beschrieben haben die Bone Morphogenetic Proteins (BMPs) einen wesentlichen Anteil an der Differenzierung mesenchymaler Stammzellen zu osteoproliferativen Zellpopulationen. Daher stellen Inhibitoren der BMP-Signalwege einen vielversprechenden Ansatz für aktuell noch experimentelle Therapieoptionen dar. Dazu gehören der BMP-Inhibitor Noggin sowie BMP-Rezeptor-Inhibitoren [30]. Bei effektiver Wirkung zur Hemmung heterotoper Ossifikationen erscheinen die Nebenwirkungen aufgrund einer ubiquitären Relevanz der BMP-Signalwege in vielen Organen noch limitierend [16]. Da für die Chondrogenese ein vermindertes Signal von Retinsäure-Rezeptoren (RAR) erforderlich ist, werden RAR?-Agonisten experimentell untersucht und können heterotope Ossifikationen effektiv vermindern [36].

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7