Übersichtsarbeiten - OUP 11/2019

Landmarkengestützte Injektionstechniken an der Wirbelsäule

Voraussetzung für die lokale Palpation und das Aufsuchen der für die Injektionstherapie wichtigen neuroanatomischen Orientierungspunkte sind Kenntnisse in der topografischen und morphologischen Anatomie. Die anatomischen Gegebenheiten bzw. vorhandene anatomische Normabweichungen sollen vorab anhand von Röntgen-, MRT- bzw. CT-Bildern überprüft werden. Das gezielte Ertasten der konkreten Landmarken gelingt oft erst nach dem Aufsuchen von weiteren benachbarten und teilweise fernen Leitstrukturen sowie Anwendung bestimmter Tricks. Bei dem Palpationsvorgang selbst kommt es sowohl auf den Palpationsdruck als auch auf die Palpationstechnik an.

Als Anhaltspunkt für den Palpationsdruck gilt: so viel Druck wie nötig, so wenig Druck wie möglich. Um die Elastizität wahrnehmen zu können, prüft man weich-elastische Gewebe langsam, harte Gewebe dagegen mit einer schnellen Bewegung. Bei der Palpation von Knochenkanten (Crista iliaca, Proc. spinosus) sollte man den palpierenden Finger immer exakt rechtwinklig mit der Fingerspitze gegen die Knochenkante einstellen. Mithilfe dieser Technik lassen sich die äußeren knöchernen Begrenzungen sehr genau darstellen [25].

Nach Beendigung des Palpationsvorgangs sollte man die ertasteten Strukturen und deren Begrenzungen auf die Patientenhaut aufmalen. Anschließend erfolgt das Aufsuchen der Einstichstelle entsprechend der Vorgaben und Messungen für die jeweils geplante Injektionstechnik. Das Markieren der Einstichstelle erfolgt am einfachsten durch Drehen eines Kugelschreibers mit eingefahrener Mine auf der Haut. Dadurch erhält man eine Markierungsstelle, die auch nach der präinterventionellen Desinfektion noch deutlich sichtbar ist [34].

Nachfolgend werden relevante anatomische Grundlagen sowie Tipps und Tricks bei dem Aufsuchen von neuroanatomischen Orientierungspunkten dargestellt, die zur sicheren und effizienten Durchführung der landmarkengestützten Injektionstechniken an der Wirbelsäule erforderlich sind.

Dornfortsatz C7/
Vertebra prominens

Der 7. Halswirbel ist der letzte Wirbel der Halswirbelsäule und befindet sich somit am zervikothorakalen Übergang. Er hat einen besonders langen Processus spinosus und übertrifft damit die anderen an Länge und Stärke. Normalerweise ist er am unteren Ende der Nackenfurche durch die Haut sichtbar und deswegen der erste der Dornfortsätze (von kranial nach kaudal), der sich gut durch die Haut ertasten lässt (Vertebra prominens). Die Dornfortsätze der Halswirbel 3–6 sind dagegen kurz und gegabelt [27]. Auch der Dornfortsatz von Th1 ist oft durch die Haut sichtbar. Die eindeutige Identifizierung des Dornfortsatzes C7 und die topografische Differenzierung zu den benachbarten Dornfortsätzen des 6. Halswirbels (C6) und des 1. Thorakalwirbels (Th1) sind für die schmerztherapeutischen Injektionstechniken an der Hals- und Brustwirbelsäule äußerst relevant und machen eine exakte Untersuchung erforderlich.

Die Ermittlung des Dornfortsatzes C7 erfolgt direkt präinterventionell am sitzenden Patienten mit leicht flektierter Halswirbelsäule und herunterhängenden Armen. Abhängig von der geplanten Injektionstechnik variiert die Flexion der Halswirbelsäule zwischen 30° und 45°. Der behandelnde Arzt muss auf die Schulter-Nacken-Region herunterblicken können. Sauerstoffsättigung und Herzfrequenz werden durch ein Pulsoxymeter überwacht. Vor dem Patienten steht ein Assistent (Abb. 1). Nach der optimalen Patientenpositionierung legt der behandelnde Arzt beide Hände auf die Schultern des Patienten. In der Regel treffen sich die Daumen bei C7 (Abb. 2). Dies gilt als erste Orientierung zur Ermittlung des Dornfortsatzes C7. In dieser Phase wird ein weiterer Test empfohlen. Eine Daumenbeere bleibt weiterhin über dem vermuteten Dornfortsatz C7 (Abb. 3a). Die freie Hand befindet sich jetzt am Kopf des Patienten und bringt eine Lordosierung der HWS über eine Kopfrückneigung ein. Dabei ist es wichtig zu spüren, ob der unter der Daumenbeere tastbare Dornfortsatz während der kompletten Kopfbewegung unverändert tastbar bleibt. Dies ist bei C7 der Fall. Der Kopf wird erneut in die Ausgangsstellung gebracht (Abb. 3b). Anschließend gleitet der Daumen nach kranial und palpiert den höhergelegenen vermuteten Dornfortsatz C6 (Abb. 4a). Man wiederholt erneut die Kopfrückneigung (Abb. 4b). Am Ende der Lordose verschiebt sich der vermutete Dornfortsatz C6 nach ventral. Diese Verschiebebewegung wird deutlich als Wegtauchen des Proc. spinosus unter der Daumenbeere wahrgenommen. Die gleiche Vorgehensweise erfolgt bei der Identifizierung des Dornfortsatzes C5. In dieser Höhe taucht sogar der Dorfortsatz C5 bereits nach geringer Lordose weg (Abb. 5a–b). Auf diesem Wege ist eine zuverlässige Identifikation der Dornfortsatzspitzen an der unteren HWS möglich.

In der Literatur lassen sich einige Untersuchungen finden, die sich mit der Genauigkeit und dem korrekten Aufsuchen des Dornfortsatzes C7 befassen. Das „Department of Anesthesiology and Pain Medicine and Anesthesia and Pain Research Institute“ in der Yonsei University in Seoul/Korea hat 2011 eine randomisierte Untersuchung bei 96 Schmerzpatienten durchgeführt. Dabei wurde die Genauigkeit zweier Techniken zur Identifikation der Vertebra prominens verglichen und anschließend unter radiologischer Kontrolle überprüft. Bei der konventionellen Palpationstechnik wurde der prominenteste Dorn als der Dornfortsatz C7 definiert und entsprechend vor der radiologischen Kontrolle markiert. Bei der Kontrollgruppe wurde der Dornfortsatz C7 mithilfe der Flexion-Extension-Technik (s. oben) bestimmt und markiert. Patientenalter, Geschlecht und der BMI (body mass index) wurden bei der Bewertung ebenfalls berücksichtigt. Der Dornfortsatz C7 wurde bei 77,1 % in der Flexion-Extension-Gruppe korrekt identifiziert. Dagegen lag bei der konventionellen Technik die Trefferquote bei 37,5 %. Hier wurde fälschlicherweise zu 47,9 % der Dornfortsatz C6 als der prominenteste identifiziert. Somit war die Genauigkeit der Palpation des Dornfortsatzes C7 mithilfe der Flexion-Extension-Technik signifikant höher als mittels der konventionellen Technik [29].

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