Übersichtsarbeiten - OUP 04/2013

Kurzreferate

Kurzreferat 1

Bedeutung der Manuellen Medizin für die Tätigkeit an einer orthopädischen Universitätsklinik

Uwe Ettrich

4. Mai, 11.00 Uhr, Sitzungsraum 1

Die Intention der Beschreitung des Weges zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie besteht hauptsächlich in der Faszination des Operierens. Für viele junge Kollegen auch in den Universitätskliniken liegt hier der Schlüssel des Erstrebenswerten. Wer kennt nicht das Hochgefühl, das erste Mal selbst ein Skalpell benutzen zu dürfen, um eine implantierte Osteosyntheseplatte zu entfernen. Schon im Jahr 2005 stimmte mich eine Schlagzeile in der Zeitschrift Spiegel sehr nachdenklich: „Der Zweig der Medizin, der die meisten menschlichen Wracks erzeugt hat, ist die Wirbelsäulenchirurgie.“ Obwohl sehr plakativ, regt dies zum Nachdenken an. Ist die Indikation zum operativen Eingriff in die Anatomie und Morphologie stets sicher oder ist nur die Funktion der anatomischen Gegebenheit gestört? Der Hauptgrund für einen Arztbesuch ist sehr oft der plagende, die Zufriedenheit störende Schmerz. Wir wissen meist nicht, wo dieser genau generiert wird. Oft zeigt uns dann die bildgebende
Diagnostik die alternde Morphologie. Die Darstellung der Funktion der Gelenke, der Muskulatur, der Faszien bis hin zum Gewebsstoffwechsel bleiben uns aber alle modernen Schnittbilddiagnostiken schuldig.

Gezielter Blick auf funktionelle Zusammenhänge bei der OP-Indikationsstellung

Unsere Augen können Funktion sehen und unsere Hände können Funktion erfahren. Diese grundlegenden ärztlichen Fähigkeiten scheinen aber immer mehr in der Schulung und im Interesse in der Ausbildung verloren zu gehen. Daher ist es insbesondere in der universitären Ausbildung wichtig, das Augenmerk des Interesses auch auf funktionelle Zusammenhänge zu legen, um hier den differenzialdiagnostischen Blick insbesondere bei der Stellung von OP-Indikationen zu schulen. Erschwerend kommt sicher hinzu, dass in den Ambulanzen der Universitätsklinika viele Patienten mit langjähriger Krankheitskarriere vorgestellt werden, wo eine Differenzierung und Wertung zwischen morphologischen und funktionellen Problemen oft nicht einfach ist. Das Erlernen manueller Untersuchungs- und Behandlungstechniken im Kontext der konservativen Orthopädie ist daher in der Facharztausbildung unbedingt zu empfehlen, um den Patienten komplexer zu sehen. Parallel dazu kann das Erkennen der psychischen Verfassung und die Evaluierung sozialer Gegebenheiten die ganzheitliche Sicht komplettieren.

Dr. Uwe Ettrich

Universitätsklinikum Carl-Gustav Carus Dresden

Orthopädische Klinik und Universitätsschmerzzentrum

Fetscherstraße 74

01307 Dresden

Kurzreferat 2

Konservative Orthopädie und Manuelle Medizin

im deutschsprachigen Raum und in Europa –

Rückblick und Ausblick

Hans Tilscher

4. Mai, 11.30 Uhr, Auditorium

Orthopädie war von Beginn an konservativ (Nicolas Andry, Berlin 1744), die Kunst, die Krummen gerade und die Lahmen gehend zu machen (Adolf Lorenz 1896). Zu ihr kam die orthopädische Chirurgie mit ihrer rasanten und erfolgreichen Entwicklung, es entstand die Orthopädie und die orthopädische Chirurgie. Somit ist das Wort „Konservative Orthopädie“ eine Äquivokation.

Epidemiologisch erfolgte Anfang der 70er Jahre der 2. Übergang, nämlich das zunehmende Auftreten degenerativer und durch das Verhalten provozierter Erkrankungen, deren wichtigstes Krankheitssymptom der Schmerz ist. Die schulmedizinische Annahme, dass Erkrankungen auf morphologische Veränderungen zurückzuführen sind, erwies und erweist sich beim Großteil aller Wirbelsäulenerkrankungen als nicht richtig.

Eine der Antworten auf das Problem der schmerzhaften Funktionsstörungen des Bewegungsapparates gab die manuelle Medizin. Mit ihrem Denken in die Funktion (Krankheit ist Fehlfunktion) entwickelte sie logischerweise die Testung der normalen Funktionen, um die für eine Erkrankung typischen Fehlfunktionen zu erkennen: klinisch-manuelle Untersuchungstechniken. Diese sind nicht nur bei Funktionsstörungen, sondern auch beim Vorliegen von pathomorphologischen Veränderungen zur Erkennung der pathogenetischen Führungsstruktur unersetzlich.

Die menschliche Hand mit ihrer vollendeten Harmonie sensorischer und motorischer Fähigkeiten ist der Ausgangspunkt diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen.

Es waren begabte, geradezu geniale, vorwiegend niedergelassene Ärzte, die nach dem 2. Weltkrieg die Manuelle Medizin neu entdeckten, analysierten und weiterentwickelten. Besonders in der damaligen Bundesrepublik Deutschland entstanden 2 Aktivitätszentren mit Menschen, deren Namen auch in einer kurzlebigen Zeit ihren Glanz behalten sollten, wie Gutmann, Wolff, Sell und Bischof.

Bei der Gründung der ersten und einzigen Abteilung für konservative Orthopädie im Orthopädischen Spital, Wien 13, die 31 Jahre lang bestand, wurde allerdings bald klar, dass die Manuelle Therapie besonders bei stationär aufgenommenen Patienten keineswegs die therapia magna darstellt und dass bei der Analyse vor allem von Wirbelsäulensyndromen eine multifaktorielle Genese multisymptomatische Krankheitsbilder bewirkt, welche die Allgemeinmedizin, die Orthopädie, die Physikalische Medizin, die Rheumatologie, die Algesiologie, die Psychiatrie, die Geriatrie, die Arbeitsmedizin, etc. betreffen sollten, wobei auch die Pseudoorganopathien und die Organreflektorik als wichtige Differenzialdiagnose in der inneren Medizin, in der Gynäkologie und Chirurgie zu erwähnen sind. Der zervikogene Schwindel berührt das Fach der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, die Neurologie benützt Untersuchungen der Funktionen des Bewegungsapparates zur Lokalisation neurologischer Probleme.

Bei der Betreuung der stationär aufgenommenen Patienten/innen, speziell Patientinnen, auf der Abteilung für konservative Orthopädie war schon früh klar, welche Interaktion zwischen Psyche und Bewegungsapparat besteht, deren Nichtberücksichtigung diagnostische und therapeutische Defizite entstehen lassen.

Berücksichtigung der Schmerzreflektorik

Es sollte sich dabei auch zeigen, dass ein wichtiger Faktor in der Therapie der Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates, speziell der Wirbelsäule, nicht nur die zentralnervöse Schmerzbekämpfung darstellt, sondern dass das große Angebot an konservativ-therapeutischen Maßnahmen die Schmerzreflektorik in der Peripherie mit Auswirkung auf das schmerzreflektorische Geschehen unbedingt therapeutisch zu berücksichtigen sei. Der fließende Übergang zu sekundär- und tertiärpräventiven Aktivitäten beeinflusst zusätzlich die Therapieresistenz und die Rezidivneigung.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10